Kapitel 6: Verschworen - Teil 2

 




Als er noch lauschte, wie Kouki und Kishoh miteinander sprachen, entwich Sekka ein sanftes, erleichtertes Seufzen.

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Die Familie Bu hatte Verrat begangen.

An diesem Abend verbreitete sich das Gerücht in der Hauptstadt, dass diese Adelsfamilie mit Premierminister Bu – dem Vater der Gesegneten Gemahlin Bu – als Drahtzieher ein Attentat auf den Kaiser geplant hatte.

In Wahrheit war natürlich Sekka das Ziel des Anschlags gewesen. Doch es stimmte auch, dass am Ende Kaiser Kishoh verletzt worden war.

Die Frau, die Sekka angegriffen hatte, lebte im Palast und war als die Talentierte Mätresse Chou bekannt – eine Konkubine der unteren Ränge. Seit dem Kindesalter hatte sie mit ihrer Mutter der Gesegneten Gemahlin Bu gedient und war dann, wie es das Oberhaupt der Familie befohlen hatte, zusammen mit ihrer Herrin dem kaiserlichen Harem beigetreten. Die Beziehung zwischen der Talentierten Mätresse Chou und der Gesegneten Gemahlin Bu war der entscheidende Anhaltspunkt der laufenden Ermittlungen – und so wurde aufgedeckt, dass die Familie Bu eine Verschwörung plante.

Wie es schien, hatte Kishoh schon eine ganze Zeit lang den Vater der Gesegneten Gemahlin Bu im Auge behalten, da Premierminister Bu bei einigen Zwischenfällen recht aufmüpfig gewesen war.

Die Antwort auf diesen Verrat folgte dann schnell und strickt: Als erstes befahl Kishoh, dass die Gesegnete Gemahlin Bu und der zweite Prinz in ihren Gemächern fest gehalten wurden. Dies war ein nun wirklich strikter Hausarrest: Es war ihnen nicht gestattet, ihren Wohnsitz auch nur mit einem Fuß zu verlassen und um den Hof standen bewaffnete Soldaten bereit, um sie zu überwachen.

Innerhalb eines Wimpernschlages mobilisierte Kishoh die Kaiserliche Eskorte – eine Einheit, die dem direkten Befehl des Kaisers unterstand – und schickte sie zum Wohnsitz der Bu-Familie. Auch die Residenzen ihrer näheren Verwandten wurden nicht verschont und eingenommen. Doch der eigentliche Schuldige – Premierminister Bu – hatte seinen Aufenthaltsort geheim gehalten und konnte nicht gefasst werden. Es gab bereits Gemunkel, dass er es geschafft hatte, aus der Hauptstadt Einei zu fliehen.

Während Kishoh noch vom kaiserlichen Arzt in seinem Schlafgemach des Shibi-Hofes behandelt wurde, kamen laufend Dienstboten herein, denen er unablässig Botschaften mitgab und Anweisungen erteilte. Allerdings schien er trotzdem wütend zu sein, weil er nicht mehr tun konnte. Er begann davon zu sprechen, dass er bald persönlich an die Front ziehen würde, doch Eishun und Kouki hielten ihn zurück.

Ihr seid verwundet; Ihr könnte jetzt nicht zur vordersten Frontlinie aufbrechen“, meinte Eishun ernst. Er machte sich sichtlich Sorgen über Kishoh.

Kouki hingegen meinte frei heraus: „Für einen Verletzten ist es ärgerlich, nichts weiter tun zu können, als die Zeit tot zu schlagen und herum zu trödeln. Während man selbst handlungsunfähig ist, werden die Verbündeten von Premierminister Bu im Kaiserlichen Hof den ersten Zug machen. Allerdings ist dies auch die beste Gelegenheit, diese Kerle zu entlarven und die ganze Bande in einem Zug zu fassen. Majestät, wenn ich so direkt sprechen darf: In Eurem jetzigen Zustand seid Ihr leider eher ein Hindernis für dieses Unterfangen.“

Du scheinst ja mächtig viel Selbstvertrauen zu haben. Denkst du denn wirklich, dass du das schaffen kannst, Kouki?“, fragte Kishoh in herausfordernden Ton, während er sich im Bett aufsetzte.

Aber natürlich“, sagte Kouki mit einem furchtlosen Lachen. „Ihr solltet vorgeben, so schwer verletzt zu wirken wie nur möglich – und Euch in die Rolle des Kranken fügen. Ich brauche dann nur noch Eure Erlaubnis, um die Kaiserliche Eskorte zu führen.“

„… Verstehe.“

Wenn er Kouki nicht vertrauen würde, so hätte Kishoh sein Einverständnis wohl nicht so schnell gegeben. Denn wenn Kouki wirklich mit den Aufständischen sympathisieren würde, könnte er vielleicht gar die Offiziere und Soldaten dazu bringen, dass sie am Ende den Kaiserlichen Palast angriffen.

Kouki war schon drauf und dran, das Schlafgemach zu verlassen, als er sich aber noch einmal zu dem an der Seite wartenden Sekka umwandte.

Ehrwürdige Gemahlin Li, bitte seht zu, dass dieser Verletzte hier nicht sein Schlafgemach verlässt.“

Er warf Kishoh noch ein verschmitztes Lächeln zu und ging dann mit einem Wirbel seiner weiten Robe aus dem Zimmer. Vielleicht lag es daran, dass ihn die bevorstehende Schlacht in ein gewisses Hochgefühl versetzte, aber Kouki wirkte gerade sehr heiter.

Damit schien der Kriegsrat erst einmal zu Ende zu sein. Als Kishoh allen Anwesenden zu winkte, dass sie ihn allein lassen sollen, erinnerte ihn Eishun noch einmal daran, dass er nichts Unvernünftiges tun sollte. Dann verließ auch er den Raum.

In dem großen, weiten Schlafgemach waren nun nur noch Kishoh und Sekka. Vor dem Fenster war der Tag bereits zu einem Ende gekommen und alles wurde in Dunkelheit gehüllt. Wenn es nicht diesen Zwischenfall gegeben hätte, so hätten sie jetzt beim Festessen gesessen, das nach der Besichtigung der Pfingstrosenbäume geplant gewesen war.

Nach dem Angriff hatte Sekka um die Erlaubnis gebeten, Kishoh begleiten zu dürfen, als der zum Shibi-Hof gebracht wurde, um dort medizinisch behandelt zu werden. Allerdings hatte er, da Eishun und Kouki und viele weitere Diener stetig ein und aus gegangen waren, noch nicht mit Kishoh reden können. Er hatte Kishoh auch noch nicht gedankt, dass er ihn gerettet hatte.

Obwohl sie sehr geblutet hatte, war Kishohs Wunde nicht sehr tief. Er hatte wirklich außerordentliches Glück gehabt. Insgeheim war Sekka erleichtert, da er nun wusste, dass Kishohs Leben nicht in Gefahr schwebte. Ihm wäre nicht wohl gewesen bei dem Gedanken, dass sich Kishoh eine schwere Wunde zugezogen hatte, um ihn zu beschützen.

Eindeutig wäre Sekka gestorben, wenn Kishoh sich vorhin nicht zwischen ihn und die Attentäterin gestellt hätte. Dann wäre der kalte Leichnam auf den Boden nicht der der Talentierten Mätresse Chou gewesen – sondern Sekkas.

Er musste ihm danken… Doch obwohl er nun schon so lange auf die Chance dafür gewartet hatte… als nun nur noch sie beide hier waren, fand er plötzlich nicht den Mut, seinen Mund zu öffnen.

Die Stille wurde immer länger und schwerer. Sekka senkte den Kopf, ohne zu wissen, wie er anfangen sollte. Dann hörte er, wie sich Kishoh von dem Bett erhob. Er schlüpfte in seine Schuhe und wollte sich gerade auch seine äußere, große Robe anziehen.

Das kannst du nicht! Du musst dich ausruhen…!“

Ich bin nicht krank und wie soll ich mich bitte jetzt entspannen?“, meinte Kishoh verärgert. Er bestand darauf, dass sein Arm gut genug behandelt worden war, und er laufen könnte. Dann nickte er Sekka mit dem Kinn zu. „Folge mir.“

Wohin gehen wir?“

Wenn du mitkommst, wirst du es sehen.“

Angesichts von Kishohs hochmütigen Worten und seinem befehlshaberischen Ton, hatte Sekka keine Lust mehr, sich bei ihm zu bedanken. Also wirklich, dieser Kerl… Er seufzte innerlich und ging Kishoh hinterher.

Wir gehen raus in den Garten“, meinte dieser zu Eishun, der vor der Tür wartete. Dann gingen sie einen langen Korridor entlang. Während er Kishoh folgte, fiel Sekka auf, dass im Hof deutlich mehr Leibwächter standen als gewöhnlich. Wie man es bei einer so ernsten Angelegenheit wie den Aufstand des Premierministers Bu erwarten konnte, waren die Sicherheitsmaßnahmen um den Kaiserlichen Hof verstärkt und die Wachen aufgerüstet worden.

Nach einer Weile trat Kishoh aus dem Gang hinaus in den Garten. Bis zum heutigen Tag war Sekka schon oft in den Palastgärten spazieren gegangen – doch dies war das erste Mal, dass er sich in dem Bereich der Parkanlage befand, der zum Shibi-Hof gehörte.

Pass auf, wo du hintrittst.“

Die Laternen im Garten brannten und die wachhabenden Soldaten hatten ein größeres Feuer entzündet, doch der Großteil der weiten Anlage war nach wie vor in Dunkelheit gehüllt. Während er sich immer einen halben Schritt hinter Kishoh hielt, der nun aus irgendeinem Grund seine Schritte verlangsamte, sprach Sekka schließlich das Thema an, das ihm die meisten Sorgen bereitete: „Was wird nun mit der Gesegneten Gemahlin Bu geschehen?“

Es wurde beschlossen, dass die Leute, die gegen den Kaiser rebellierten, bis in die neunte Generation der nächsten Verwandten hingerichtet werden. Gemahlin Bu hat sich dieses Vergehens schuldig gemacht. Natürlich wird sie die angemessene Strafe erhalten.“

Sekka fehlten die Worte angesichts von Kishohs kaltherziger Erklärung.

Auch wenn Sekka das eigentliche Ziel des Attentats gewesen war, so war am Ende der kostbare Körper des Kaisers selbst verwundet worden. Zudem hatte der Premierminister Bu noch eine Rebellion gestartet. Dass darauf eine strenge Strafe folgen musste, war zu erwarten gewesen – aber gleich jeden bis in die neunte Generation umzubringen…?

Er musste an die bleiche, erstarrte Miene der Gesegneten Gemahlin Bu vor wenigen Stunden denken.

Zuerst hatte er gedacht, dass sie einfach nur geschockt gewesen war, weil Kishoh bei dem Attentat verletzt wurde. Aber hatte sie vielleicht damals schon vor Angst gezittert, weil dies eine völlig unerwartete Wendung in ihren Plänen gewesen war?

Die Gesegnete Gemahlin Bu, die immer wie ein Pfau versuchte, alle anderen mit ihrer strahlenden Schönheit zu übertrumpfen, hatte in diesem Moment beinah schon hilflos und verwundbar gewirkt. Da die Talentierte Mätresse Chou auf Befehl von Premierminister Bu gehandelt hatte, war es durchaus möglich, dass dessen Tochter nichts von seinen wahren Plänen gewusst hatte. Für sie war die Tatsache, dass man Sekka angegriffen hatte, jenseits jeder Erwartung gewesen.

Derjenige, der die Talentierte Mätresse Chou angestiftet hat“, sagte Sekka, „ist höchstwahrscheinlich Premierminister Bu gewesen. Wenn wir von dieser Tatsache ausgehen, so hat die Gesegnete Gemahlin Bu von alldem nichts gewusst.“

Kishoh hatte ein sofortiges Verhör seiner Gemahlin befohlen, doch Gemahlin Bu bestand darauf, dass sie in keinerlei Verbindung zu den Ereignissen stand, die die Talentierte Mätresse Chou ausgelöst hatte, und sie weigerte sich, irgendetwas zu gestehen.

Selbst wenn das stimmt“, meinte Kishoh, „so gibt es da immer noch die zahllosen Belästigungen gegen dich. Und sowieso kann man der Tochter eines Hochverräters nicht vergeben.“

Das mag schon sein, aber…“

Durch die Aussagen von Say und den anderen Eunuchen hatte sich bestätigt, dass der Überfall vor einigen Tagen tatsächlich von der Gesegneten Gemahlin Bu in die Wege geleitet worden war. Aus Angst, die Gefolgsmänner des Premierministers könnten von diesem Stand der Ermittlungen erfahren, hatte man die Untersuchung bis jetzt noch nicht eingestellt. Wie es schien hatte man auch Beweise gefunden, dass die Dienerinnen von Gemahlin Bu und auch die Talentierte Mätresse Chou bei all diesen Schikanen mitgeholfen hatten.

Aber warum hat Premierminister Bu überhaupt beschlossen, zu diesem Zeitpunkt die Rebellion zu starten?“

Dies hängt wohl damit zusammen, dass Eishoh dein Adoptivsohn wurde. Die Chancen, dass der Enkel des Premierministers, der Zweite Prinz Bunshoh, zum Kronprinzen erklärt werden würde, sind damit gesunken. Bis zum heutigen Tag hat er schon mehrere Attentate auf Eishoh durchführen lassen, doch sie konnten immer vereitelt werden. Dieses Mal hat er dich angegriffen – wohl weil er dachte, dass dies einfacher wäre, als Eishoh zu töten.“

Als er nun hörte, dass Eishohs Leben auch schon bedroht gewesen war, wurde es in Sekkas Herzen ganz kalt. Er fühlte sich, als hätte er bis jetzt erst einen kleinen Einblick auf die dunkle Seite des so blühenden und gepriesenen Harem erhalten.

Wie es schien, war es ihr Plan gewesen, gleich einen Aufstand zu starten, wenn die Talentierte Mätresse Chou versagen sollte. Ich habe schon eine Weile gespürt, dass es das Beste wäre, die Schritte des Premierministers zu überwachen. Aber selbst ich habe nicht erwartet, dass er so zeitig handeln würde.“

In Kishohs Miene mischte sich eine Spur Bitterkeit und er sah grimmig nach vorn. Wahrscheinlich hatte er vorgehabt, den Plan des Premierministers zu vereiteln, bevor er zuschlagen und eine Rebellion beginnen konnte.

Was wird mit Bunshoh-sama geschehen?“

So wie Kishoh sprach, schien es, als würde, egal wie die Wahrheit nun aussehen mochte, die Gesegnete Gemahlin Bu dem Tod nicht entgehen können. Sekka machte sich Sorgen um den immer noch sehr kleinen Zweiten Prinzen, der schon bald seine Mutter verlieren würde.

Bunshoh ist selbstverständlich auch Teil der neun Generationen.“

Aber…“

Hieß das, dass sie ihn töten würden? Bunshoh war nur um drei Monate jünger als Eishoh. In Sekkas Kopf überlappten sich die zwei kindlichen Gestalten.

Aber ist Bunshoh-sama nicht dein Sohn…?!“

Sekka hatte es nicht beabsichtigt, doch er hörte den Vorwurf in seiner Stimme. Kishoh, der ihm bis jetzt voraus gegangen war, hielt inne und drehte sich um.

Ich werde keine weiteren, potentiellen Bedrohungen für die Zukunft wuchern lassen! Selbst wenn ich nur Bunshoh am Leben ließe… Wenn er erwachsen wird, wird er mit großer Wahrscheinlichkeit einen Groll gegen mich hegen wegen dem, was mit seiner biologischen Mutter passiert ist, und weil ich ihre Familie töten ließ. Wenn sich irgendjemand dieses Grolls bedient und ihn benutzt, dann würde es bestimmt nicht nur damit enden, dass Bunshoh dieselben Fehler macht wie sein Großvater -“

Das sind doch alles nur Möglichkeiten, von denen du da sprichst. Bunshoh-sama ist noch nicht einmal zwei Jahre alt und das hängt alles davon ob, wie man ihn von jetzt an erziehen wird -“

Die Möglichkeit für dieses Szenario reicht mir schon! Ich werde die Saat des Bösen ausreißen, bevor sie Wurzeln schlagen kann! Einei wird sich jedenfalls niemals wieder in ein Meer der Flammen verwandeln, nur weil es in der Kaiserlichen Familie Streit gibt!“

Sekka konnte an dem grimmigen Tonfall hören, wie eisern Kishoh in dieser Sache bleiben würde. Wie man sich denken konnte, vertrat Kishoh die Ansichten eines Mannes, der selbst miterlebt hatte, wie verbittert und blutig die Menschen um den Thron kämpfen konnten.

Sekka hatte gehört, dass ein Großteil der Hauptstadt Einei während der Kämpfe um die Herrschaft vor einigen Jahren in Schutt und Asche gelegt worden war. Das Einei, das er gesehen hatte, als er zum Palast gebracht worden war, war von einer Leuchtkraft und schillernde Schönheit, wie es sich für die Hauptstadt des mächtigsten Reiches der Binnenlande gehörte. Man konnte nicht einmal mehr die kleinste Spur von der Zeit sehen, als sie nur noch ein Berg an Trümmern gewesen war. Mit anderen Worten hieß das, dass Kishoh die zerstörte Hauptstadt in den wenigen Jahren, die er jetzt an der Macht war, von Grund neu aufgebaut hatte.

Kishoh war kein Dummkopf. Nach allem, was Sekka bis jetzt von diesem Mann gesehen hatte, verstand er gut, dass Kishoh in jeder Faser die Qualitäten vereinte, die aus ihm einen würdigen Herrscher machten. Eine so mächtige Nation wie Yoh zu regieren war nicht gerade leicht.

Und damit niemals wieder eine solche Verschwörung erwachsen konnte, musste man dieses eine Mal eine sehr harte Strafe über die Familie Bu verhängen. Kishoh würde selbst sein eigenes, kleines Kind dafür opfern.

All das tat er zum Wohle des Friedens in seinem Land.

Kishoh hatte Recht. Doch Sekka erschien diese Lösung schrecklich brutal und unbarmherzig. Er hatte seine Meinung geäußert – es gab nichts, was er noch tun konnte.

Während er sich noch auf die Lippe biss und es nicht schaffte, weiter zu sprechen, schob sich plötzlich ein kleiner Ball aus Licht in Sekkas Sichtfeld. Als er aufsah, bemerkte er einen weiteren und einen weiteren, die zwischen den Bäumen auf auf und ab tanzten.

„… Glühwürmchen…?“

Wir sind gleich am Teich“, sagte Kishoh und deutete nach vorn. In den Lücken des Dickichts konnte man die schimmernde Oberfläche des schwarzen Wassers erkennen.

Sekka lief weiter hinter Kishoh her, der nun in die Richtung des Teiches marschierte. Je näher sie kamen, desto mehr Glühwürmchen wurden es.

Das sind ja so viele…“

Unzählige Leuchtkäfer flogen vor ihnen umher und strahlten ein schwaches Licht aus. Sekka hatte davor schon im Seika-Hof Glühwürmchen gesehen, aber noch nie in dieser Zahl. Das Licht der kleinen Insekten brach sich genau wie das der Sterne auf der Wasseroberfläche und ließ ihre Umgebung in einem matten, weißen Licht erstrahlen.

Als sie am Ufer des Teichs anhielten, betrachtete Sekka diesen herrlichen Anblick voller Staunen. Es war bezaubernd. Und obwohl das Licht keinerlei Hitze in sich trug, erschien es ihm warm.

Meine Mutter ist hier gestorben. Damals war ich zehn Jahre alt.“ Kishoh machte unerwartet den Mund auf, als Sekka friedlich die Szene vor sich betrachtete. Sein erhabenes Profil, das sonst im Schatten gelegen hätte, wurde vom Licht der Glühwürmchen erhellt. „Sie ist versehentlich bei einem Spaziergang ausgerutscht und in den Teich gefallen… Es wurde als ein tragischer Unfall deklariert, doch in Wahrheit ist der Fall noch immer nicht aufgeklärt.“

Dies hatte Sekka auch von Eishun gehört. Ein Großteil der Konkubinen des letzten Kaisers – und auch die Kaiserinwitwe – war bereits gestorben oder sie waren dem Harem während der Streitigkeiten um den Thron entkommen. Also gab es nur noch wenige Leute, die auch damals schon im Harem gewesen waren – und es war schwer, diese Geschehnisse genau zu untersuchen.

Ich glaube, sie wurde meinetwegen getötet.“

Sekka sah ihn sprachlos an.

Eishun hatte ihm erzählt, dass Kishohs Mutter aus einer Familie an Regierungsoffizieren der mittleren Ränge stammte. Der damalige Kaiser hatte wegen ihrer Schönheit Gefallen an ihr gefunden und schließlich gebar sie ihm Kishoh – den Dritten Prinzen. Die damalige Kaiserin war von hoher und mächtiger Abstammung gewesen und sie war eine schrecklich eifersüchtige Frau. Daher hatte es damals auch viele Gerüchte über den Tod von Kishohs Mutter gegeben.

Der Kaiserliche Hof ist eine Welt, die von bösen Geistern heimgesucht wird – und die sind noch schlimmer als jene, die man in den Bergen und Flüssen dieses Landes findet. Wenn du keine Macht hast, wird man dich töten. Aus diesem Grund habe ich um jeden Preis die Macht erlangen wollen. Es ging mir gar nicht mal um den Kaiserthron – ich kämpfte einfach ums Überleben.“

Sekka musste an sein eigenes Leben denken. Wenn man einmal von der Tatsache absah, dass er mit einem ungewöhnlichen Körper geboren worden war, war sein Leben immer recht sorglos verlaufen. Immer war er von seiner Mutter und seiner älteren Schwester beschützt worden. Erst als Yoh sie überfallen hatte, hatte er zum ersten Mal am Scheideweg zwischen Leben und Tod gestanden.

Doch wie Kishoh von klein an in einer solch grausamen Welt überleben konnte, ging über Sekkas Vorstellung hinaus. Er hatte mit gerade mal zehn Jahren seine Mutter verloren und war alleine im Harem zurück geblieben – ohne noch jemanden zu haben, auf den er sich hätte verlassen können…

Aber auch wenn das stimmte, so war das noch keine Rechtfertigung dafür, dass er Ka gestürzt hatte! Und doch merkte Sekka, dass er nun, wo er Kishohs Geschichte kannte, den bitteren Groll gegen ihn nicht mehr auf dieselbe Art aufrecht halten konnte wie sonst. Egal wie viel Hass er in sich auch zusammen kratzte und wie sehr er sich auch sagte, dass er ihm nicht vergeben konnte… in seiner Brust ebbte der Durst nach Rache immer mehr ab.

Vor Kurzem, als die Talentierte Mätresse Chou ihn attackiert hatte, hatte es ihn mehr geängstigt, Kishoh sterben zu sehen, als selbst ermordet zu werden. Tief in seinem Inneren wusste er bereits, dass er keine Rache mehr nehmen würde.

Warum hast du mich gerettet?“

Das sagte ich bereits. Du bist meine Gemahlin. Ich werde nicht zulassen, dass dir irgendjemand auch nur ein Haar krümmen wird“, erwiderte Kishoh entschieden aber ruhig.

Sekka hatte gedacht, dass Kishoh sich hatte verletzen lassen, um es allen deutlich zu machen, dass Sekka zu seinem Besitz gehörte... doch nun verstand er es besser. Vor wenigen Stunden hatte Kishoh Sekka gerettet, ohne dabei an die eigene Sicherheit zu denken. Sekka wusste nicht, wie viel davon wirklich aus Zuneigung passiert war – doch zumindest hatte er ihn nicht im Angesicht der Gefahr verstoßen.

„… Danke.“

Ich will dich nicht verlieren müssen, wie ich damals meine Mutter verlor. Das ist alles.“

Obwohl ihm Sekka nun endlich gedankt hatte, war Kishohs Antwort recht barsch. Er mied bewusst Sekkas Blick und sah stattdessen auf die Oberfläche des Teichs, die wegen des Lichts der Glühwürmchen in einem bläulichen Weiß erstrahlte. Vielleicht war er ja gerade verlegen.

Ich wollte mir das gerne mit dir zusammen ansehen.“

War das der Grund, warum ihn Kishoh zu dem Teich gebracht hatte? Es gab nicht viele Nächte, in denen die Glühwürmchen so lebhaft darüber flattern würden wie jetzt gerade. Wahrscheinlich war heute Abend wirklich der beste Zeitpunkt, um sie hier zu betrachten.

Es war schon seltsam. Dass Sekka hier Seite an Seite mit dem Mann stehen konnte, den er wie seinen Erzfeind verabscheute – und er dennoch nicht an weltliche Dinge dachte und sie sich stattdessen nur zusammen diese wunderschöne Szene ansahen.

Dieser Mann hatte ihn wirklich vollkommen gebrochen und verändert.

Bis zu einem Punkt, an dem es kein Zurück mehr gab.

Sein Land und seine Familie… Als Sekka an die vielen Dinge dachte, die er verloren hatte, schmerzte es ihn in seiner Brust. Doch niemand konnte die Zeit zurück drehen. Und man konnte auch die Dinge, die man verloren hatte, nicht mehr wieder beschaffen.

Oh…“

Eines der vorüberziehenden Glühwürmchen war in Sekkas Haaren gelandet und hatte sich verfangen. Sekka wollte es von sich schütteln, doch er hatte Angst, es zu verletzen, und konnte sich nicht regen. Als er das sah, dehnte sich Kishohs Mund zu einem breiten Lächeln.

Scheint so, als würden sowohl Vögel wie auch Insekten dich lieben und auf dich fliegen.“

Kishohs Miene war gerade so zärtlich, dass Sekka meinte, dies müsste eine Sinnestäuschung sein oder aber eine Illusion, die das flackernde Licht der Glühwürmchen erzeugte. Und als er sah, wie Kishoh ihn so betrachtete, beschleunigte sich unerwartet auch Sekkas Herzschlag.

Während Sekka immer noch von der eigenen körperlichen Reaktion verblüfft war, fischte Kishoh das Glühwürmchen aus seinen Haaren. Nachdem es sich kurz auf Kishohs Handfläche ausgeruht hatte, breitete es seine Flügel wieder aus und flog sanft davon.

Sekka.“

Er hörte, wie Kishoh seinen Namen nannte, während sie noch dabei zusahen, wie das Glühwürmchen davon flog und eine Schliere aus Licht hinter sich herzog. Sein wahrer Name, den nur noch sehr wenige Leute kannte, hallte in seinen Ohren nach, als wäre er etwas besonderes.

Der gerade so ernst blickende Mann ergriff seinen Kiefer und drückte Sekkas Gesicht nach oben, sodass er ihn ansehen musste.

Sekka starrte fasziniert in die Augen dieses Mannes, die das Licht der Glühwürmchen reflektierten. Dann legte sich sein Mund auf Sekkas Lippen. Kishoh wechselte einige Male den Winkel und zupfte süß an ihnen herum.




Dieser Kuss bestätigte ihnen beiden, dass sie noch lebten und nun hier zusammen waren. Er war unglaublich zärtlich und süß und Sekka hatte das Gefühl, als würde das Innere seines Körpers schmelzen.

Wenn er nun darüber nachdachte, so war es wirklich schon lange her, seit Kishoh ihn das letzte Mal so eng umschlungen hatte. Tatsächlich hatte er Sekka vor dem starkem Fieber so gut wie jeden Abend in sein Bett zitiert – und kaum einmal einen Tag Pause eingelegt.

Nun war er schon viele Nächte ohne seinen Ehemann ausgekommen. Doch das Mahl, das Kishoh ihm so oft in seinen Körper eingebrannt hatte, war nicht entschwunden. Selbst jetzt, als sie sich nur küssten, pochte es lebhaft in seinem Inneren. Es war so präsent und lebendig, dass sich die Flamme der Begierde allein schon durch diese süßen Küsse entfachte.

Wenn diese Angelegenheit erledigt ist…“

Es geschah genau in dem Augenblick, als Kishoh den Kuss unterbrach und Sekka etwas sagen wollte. Sie hörten, wie sich ein Paar Schritte ihrer Stelle am Ufer nährten.

Kishoh-sama!“ Es war Eishuns demütige Stimme, der nun nach ihm rief. „Wir haben soeben eine Nachricht von General Sai erhalten. Der Aufenthaltsort von Premierminister Bu ist bestätigt!“

Verstanden. Ich komme.“ Kishoh seufzte unterdrückt und ein bitteres, enttäuschtes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „Selbst dem Kaiser bleibt jetzt keine Zeit für schöne Dinge. Das werden wir wohl ein andermal fortsetzen müssen.“

Hah…“ Sekka seufzte kurz, als Kishoh mit dem Finger über seine leicht tauben Lippen strich.

Als sie sich wieder auf den Weg machten, wobei seine Hand immer noch in Kishohs lag, musste Sekka sich arg zusammen reißen, um das Zwicken der Begierde, die sich tief in seinem Körper anstauen wollte, zu unterdrücken.



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Sandas Gedanken zum Text
Na, jetzt wird es ja doch noch ein bisschen romantischer zwischen den beiden. Gut so, Kishoh, so sollte das viel besser laufen, als bei deinen vorherigen (*hüstel*) Annäherungsversuchen. 
Und ich freue mich so über dieses schöne Bild dieses Kapitels! Die Effekte bei den leuchtenden Glühwürmchen sind wirklich schön umgesetzt! Erinnert mich sehr an das chinesische Laternenfest Yuanxiao oder an diese eine Szene aus "Rapunzel - Neu verföhnt", wo die zwei im Boot sitzen und überall um sie leuchten die Laternen.



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5 Kommentare:

  1. Ja, ein sehr schönes, romantisches Kapitel, schade, dass die Beiden inmitten ihrer Annäherung unterbrochen wurden, wer weiß, was sonst noch alles passiert wäre

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  2. endlich mal etwas zärtlicher als sonst und das es diesmal mehr romantischer zu ging. die szene mit den glühwürmchen finde ich süß. auch das er zugab das er in beschützt weil er in nicht verlieren will. schade das sie gestört wurden. es war herrlich beschrieben die umgebung. freu mich wenns weiter geht.

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    1. Ich verspreche, das letzte Kapitel wird schneller veröffentlicht! Hah, ich lass mich in letzter Zeit zu sehr von anderen Dingen ablenken!

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  3. Die Ermittlungen waren ein voller Erfolg. Die Familie Bu steckt dahinter bzw. Premierminister Bu. Auch was die Gemahlin Bu angeht, kam nun alles raus. Was die Strafe dafür angeht, nun ja, sie ist heftig und schrecklich, das andere, die nichts damit zu tun haben, nun sehr wahrscheinlich ebenfalls ums Eck gebracht werden. Ganz besonders mit dem Kind. Aber wenn es größer wird, erwachsen und alles erfährt...
    Was Sekka und Kishoh angeht bin ich hin und her gerissen. Sekka wurde gebrochen und es haben sich Gefühle für Kishoh entwickelt. Vielleicht ist es auch einfach nur eine Reaktion, das Beste aus dem ganzen zu machen. Seine Rache nimmt auch immer mehr ab und er weiß, dass er dies nie in die Tat umsetzen wird. Er hat all diese Scheiße und Horror überlebt und irgendwann hat man wohl den Punkt erreicht, wo man abschließen muss und neu anfangen. Dies mit dem Mörder der Familie zu tun... wie gesagt, bin hin und her gerissen und vielleicht sollte ich einfach mein Gehirn ausschalten und mich darüber freuen, das Kishoh mal etwas von sich erzählt hat, man mehr über ihn erfährt und warum er auch so geworden ist, wie er nun mal eben ist. Dennoch gefiel mir die Szene mit dem Glühwürmchen und wie er sich etwas zum Positiven verändert hat.
    Wehe er verkackt das Ganze wieder. Dann wird er mit einer einfachen Fleischwunde bei mir nicht davonkommen.

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    1. Haha, meine Rede! Auf der Schiene soll er bleiben!
      Tja, die Beziehung ist wirklich nicht ganz einfach bei den beiden. Wir haben hier auch viele Tendenzen zu nem Stockholm-Syndrom (man fängt an, für seinen Entführer/ Gefängniswärter Gefühle zu entwickeln) und in der Hinsicht bleibt es auch. Ich hab damit (fiktional gesehen) keine Probleme, solange alle glücklich damit sind, aber ich denke, wie es bei ihnen angefangen hat... na ja, über diesen Konflikt wird man glaub ich nie hinweg kommen.

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