Auf der Oberfläche des Sees trieben gebogene Blütenblätter wie winzige Schiffchen umher – es waren die letzten Boten des Frühlings. Auf den umstehenden Kirschbäumen konnte man fast nur noch neue Blätter erkennen. Wenn der Wind durch die Zweige fuhr, fielen manchmal noch vereinzelte, welkte Blüten hinab und tanzten durch die Luft.
Sekka war auf die oberste Ebene des Turmes gestiegen und sah hinab auf den Garten und auf die verblassenden Farben des späten Frühjahrs.
Der ausladende Park besaß einen Teich und künstliche Hügel, was der Szenerie einen rustikalen Charme verlieh. Die vielen Bäume waren perfekt gestutzt worden und fügten sich makellos in die Grundgestaltung des Gartens ein.
Um den Park herum standen unzählige Palastgebäude. Es sah aus, als würden sie um den besten Platz wetteifern. Die auffallend größte Gruppe an Häusern, die an der Stirnseite mit schweren Toren geschützt wurde, gehörte dem Kaiserlichen Hof, wo der Herrscher offizielle Besucher empfing und seinen Aufgaben nachkam. Der Turm, auf dem Sekka stand, lag in der Mitte des Gartens und war sehr groß. Doch selbst von diesem erhöhten Punkt aus konnte man die Tore des Palastes nicht sehen – sie waren einfach zu weit entfernt.
Auch heute würden wohl wieder viele Menschen die Hauptstraße hinauf und hinunter eilen, und die Händler würden ihre Waren auslegen, die Sekka noch nie zuvor gesehen hatte, und dann mit ihren Kunden feilschen – so laut, dass es wie das Klirren von Schwertern klang.
Dies hier war die Hauptstadt von Yoh: Einei.
Als Metropole des größten Reiches im Binnenland wurde sie täglich von politischen Würdenträgern und Händlern aus allen Länder der Welt besucht und war stets voller Leben. Menschen mit den unterschiedlichsten Haut-, Augen- und Haarfarben mischten sich in das Bild von Einei, als wäre das ganz normal. In diesem Reich hier gab auch die Kaufleute des Westens, die ihre Köpfe immer mit einem Hut bedeckten und die man in Ka nur selten zu Gesicht bekommen hatte. Hier war es fast schon alltäglich, wenn man einen von ihnen über den Weg lief.
Sekka seufzte, als er sich an das Bild der Hauptstraße erinnerte, die sie auf ihrem Weg zum Palast vor ein paar Tagen entlang gekommen waren.
Vor dem glänzenden und eindrucksvollen Kaiserpalast öffnete sich einem die ganze Welt. Auch der Himmel über ihnen war mit solch fernen Ländern wie Ka verbunden.
Doch für ihn, der nun im Inneren Palast wie in einem prunkvollen Vogelkäfig eingesperrt saß, waren solche Wünsche, wie etwa den Kaiserpalast zu verlassen, nicht einmal mehr in den wildesten Träume möglich.
Er fragte sich, ob wirklich einmal der Tag kommen würde, wo er diesen Palast verlassen konnte… In seinem jetzigen Zustand war selbst das Ausüben von Rache ziemlich fragwürdig.
Noch immer tief in Gedanken über die eigene Nutzlosigkeit brütend, hörte Sekka, wie Shohen leise seinen Name flüsterte. Im Inneren des Raumes waren nur sie drei – Sekka, Shohen und Baigyoku – doch draußen vor der Tür standen zwei Eunuchen und warteten auf ihre Befehle.
„Der Wind ist kühl geworden. Es ist nicht gut für die Gesundheit, so nah am Fenster zu stehen.“
„Richtig. Wäre es nicht langsam an der Zeit für uns zurück zu gehen?“, bekräftigte Baigyoku. „Wir müssen uns auch noch für diese Nacht vorbereiten…“, fügte sie schüchtern hinzu, wobei sie wohl versuchte, auf Sekkas Gefühle Rücksicht zu nehmen.
Sekka wollte den zwei Dienerinnen nicht zu viel Kummer zu bereiten. „Ich verstehe schon“, erwiderte er mit einem milden Lächeln, wobei er seine melancholischen Gedanken beiseite schob und sich von der Fensterbank löste.
Es waren nun schon zehn Tage, seit er auf Kishohs Befehl dem Inneren Palast und Harem beigetreten war. Für heute Nacht war Sekka wieder in die Schlafgemächer des Kaisers beordert worden. Wenn er sich diesem Befehl widersetzen könnte, so hätte er es getan. Er musste so gut wie jeden Tag zu Kishoh gehen und der spielte dann immer so hartnäckig mit ihm, bis Sekka das Bewusstsein verlor. Es war kein Wunder, dass sich dadurch in den letzten Tagen ein Hauch der Erschöpfung in seinem Körper eingenistet hatte.
Auch wenn sich die Nächte, in denen sie es miteinander trieben, langsam zu einem ganzen Berg auftürmten, so hieß das doch nicht, dass das Gefühl der Verlegenheit und der Abneigung in ihm jemals nachgelassen hätte. Ebenso wenig wie der Hass, den er für Kishoh empfand. Doch trotzdem … es war leider auch eine Tatsache, dass sein körperliches Vergnügen nach jeder Nacht nur noch stärker wurde.
„Es spielt keine Rolle, wie sehr du dich mir widersetzt, denn gegen meine Stärke kommst du nicht an. Du weißt nur einfach nicht, wann du verloren hast“, hatte Kishoh ihm einmal lachend gesagt und dann seelenruhig seinen Widerstand gebrochen – bis Sekka schließlich aufgab. Von Anfang an – seit Kishoh die Leben der Soldaten ins Spiel gebracht hatte – hatte sich Sekka ihm auf keine bedeutende Art mehr widersetzen können. Jeden Tag, wenn er wieder zu Sinnen kam, verfiel er in abgrundtiefen Selbsthass – wann immer er sich an sein beschämendes Verhalten erinnerte, zu das er sich angesichts der Freude, die Kishoh ihm bereitete, hinreißen ließ.
Wenn man ihm stattdessen Schmerzen zugefügt hatte, so hätte er es ertragen können. Er beklagte es sehr, dass seine Schwäche ausgerechnet das Vergnügen war.
Kishoh mochte ein arroganter Tyrann und Bastard sein – oder Ähnliches – doch unerwarteterweise zog er es vor, Sekka lieber Vergnügen zu bereiten, anstatt das eigene Verlangen zu befriedigen. Es gefiel ihm offenbar mehr, seinen Partner völlig auseinander brechen zu lassen.
Doch das verschlimmerte Sekkas Schande nur noch. Momentan hatte er es gerade mal geschafft, die Keuschheit jenes Organs zu erhalten, das den Beweis dafür lieferte, dass er auch eine Frau war. Sekka wusste nicht, ob dies nun einfach nur eine Laune von Kishoh war oder es wirklich daran lag, dass dieses Körperteil einfach nicht sein Interesse erregte.
Doch wie dem auch sei – es war nur eine Frage der Zeit, bis auch dieses Organ misshandelt werden würde. Beim ersten Mal, als Kishoh nur die Fingerspitze hinein geschoben hatte, hatte Sekka noch Schmerz verspürt – inzwischen aber wurde dieser Teil seines Körpers schon bei der kleinsten Berührung feucht und gab dickflüssigen Saft von sich.
Ich werde dich als meine Gemahlin im Palast willkommen heißen.
Während der drei Tage, die sie in der Kaiserlichen Villa bei den Heißen Quellen geblieben waren, war Sekka von Kishoh für Tag und Nacht gepeinigt worden. Wahrscheinlich hatte dieser beängstigende Geschlechtsverkehr – voller anzüglicher Taten – etwas mit Sekkas unbefleckten Körper angestellt und ihn nachhaltig verändert.
Als Sekka drei Tage später dann endlich wieder Shohen und Baigyoku gesehen hatte, hatten sie beide vor ihm gramerfüllt geweint und sich für ihre Ohnmacht entschuldigt. Natürlich hatten sie sehr gut verstanden, was mit ihrem Meister geschehen war.
Als sie erfuhren, dass er, obwohl man seine Identität als Prinz herausgekommen hatte, dennoch dem Kaiserlichen Harem als Prinzessin Shungetsu beitreten sollte, waren sie beide sowohl geschockt wie auch empört gewesen, dass Sekka von Kishoh nun zu solch einer Entscheidung gezwungen wurde, und sie hatten das Unglück ihres Meisters beklagt. Beide hatten sich nur schwer mit dieser Situation abfinden können, doch sie blieben weiter an Sekkas Seite, um ihm zu dienen.
Doch egal was Kishoh damals auch zu ihm gesagt hatte – Sekka sah keinen Grund, diese Worte auch wirklich ernst zunehmen. Bis zum letzten Moment hatte er wirklich geglaubt, dass er nur dem Namen nach eine Gemahlin von Kishoh sein würde, und man ihn wahrscheinlich in eine der hintersten Ecken des Palastes abschob, damit er dort vor sich hin vegetieren konnte.
Man hielt ihn momentan zwar noch für eine Frau, doch er hatte keine Ahnung, wie lange er damit durchkommen würde. Der Innere Palast war gestopft voll mit allen Ehefrauen des Kaisers und wenn er sich den echten Konkubinen anschließen musste, würde ihnen schon bald sein Unbehagen auffallen. Und natürlich stieg damit auch die Gefahr, dass seine wahre Identität aufflog.
Von Anfang an war Sekka überzeugt gewesen, dass Kishoh ihn vor allem deshalb so gedemütigt hatte, um seine Langweile während des Aufenthalts in der Kaiserlichen Villa zu vertreiben. Im Klartext also konnte es sich dabei nur um eine temporäre Laune handeln. Wenn sie wieder in der Hauptstadt waren, würde Kishoh ihn bestimmt nicht mehr beachten.
Allerdings hatte Sekka mit dieser Annahme gründlich falsch gelegen!
Das Endresultat war folgendes: Sobald sie den kaiserlichen Palast betreten hatten, wurde er im Inneren Palast eingesperrt und er erhielt den Rang einer Gemahlin. Und es waren noch keine zwei Tage verstrichen, als man ihm auch schon befahl, Kishoh erneut zu Diensten zu sein.
Die Ehrwürdige Gemahlin Li – dies war Sekkas neuster Titel im Harem.
Yoh’s sogenannter Harem der dreitausend Mädchen war in allen Nachbarländern berühmt berüchtigt und bestand angeblich mindestens aus der Kaiserin, vier Gemahlinnen, neun Prinzessinnen, zweiundsiebzig Damen aus dem Volk und einundachtzig Nebenfrauen. Auch wenn er offiziell immer noch so hieß, so war unter Kishohs Herrschaft die Zahl der Konkubinen und Eunuchen deutlich reduziert worden.
Auch die letzten Kaiserinnen in Ka sollen viele Liebhaber gehabt haben, aber es hatte dort nie eine klare Rangordnung wie in einem echten Harem gegeben. Wie man sich bereits denken konnte, gab es auch hier in Yoh keine dreitausend Mädchen im Inneren Palast, aber Sekka fand es dennoch ausgesprochen bizarr, wenn er sich nun vorstellte, wie an die hundert Konkubinen um die Zuneigung von gerade mal einem Mann kämpften.
Momentan war der höchste Rang, den es unter diesen Frauen gab, der der Ehrwürdigen Gemahlin – da Kishoh noch niemanden zu seiner Kaiserin ernannt hatte. Wahrscheinlich hatte er Sekka dieser Status verliehen, weil er der ehemalige Prinz von Ka war. Doch Sekka war das herzlich egal.
Er war dem Harem nur sehr widerstrebend beigetreten, hatte aber doch gehofft, dass er hier zumindest ein Leben haben würde, bei dem er nicht zu viel Aufmerksamkeit erregte. Diese Hoffnung wurde von all den folgenden Nächten des Liebesdienstes mit dem Kaiser gründlich zerschlagen.
Sekka war die Prinzessin eines verfeindeten Landes, die der Kaiser höchstpersönlich gefangen hatte. Er war die bevorzugte Gemahlin, die für ganze drei Tage und Nächte lang seine Gunst erhalten hatte, als sie in der Kaiserlichen Villa gewesen waren – und auch nachdem sie in den Harem aufgenommen wurde. Er hatte all die anderen Konkubinen überflügelt und mit einem Schlag den höchsten Posten errungen!
Gerade jetzt war im Palast von Yoh die Ehrwürdige Gemahlin Li – Prinzessin Li Shungetsu – das heißeste Gesprächsthema überhaupt.
Und so musste er sich an den Gedanken gewöhnen, dass er, wenn er für einen Spaziergang nach draußen ging, neugierige Blicke auf sich fühlen und das hitzige Getuschel der Dienerinnen hören würde. Wenn er Pech hatte und eine der Konkubinen traf, war es schon fast an der Tagesordnung, dass man ihm mit stechenden Blicken voller Hass bedachte und jedes Wort so scharfkantig war, dass er sich fühlte, als würde man ihn gerade mit Nussschalen bewerfen.
Aber um fair zu sein: Für diese Frauen war es ja geradezu unmöglich, keinen Groll für ihn zu hegen. Seit Sekka dem Harem beigetreten war, hatte nicht eine einzige von ihnen Kishohs Gunst erhalten. Als Sekka eines Tages mit anhörte, was Eishun einem Eunchen leise seufzend erzählte, begriff er endlich, in was für einer verdrehten Situation sie sich befanden: Zehn Tage waren zehn Tage. Es bestand kein Zweifel, dass sich die anderen Frauen große Sorgen machen, ob denn die „Ehrwürdige Gemahlin Li“ mit dem Kind des Kaisers schwanger war. All diese Mädchen wussten, dass das Schicksal ihrer Familien auf dem Spiel stand. Sie alle waren von ihren Familien in den Harem geschickt worden und man hatte ihnen befohlen, die Zuneigung des Kaisers zu gewinnen und einen Prinzen zu gebären.
Sekka und Kishoh allein wussten, dass die Sorgen der Frauen am Ende unbegründet waren. Sekkas Körper war deformiert und er war weder als der eines Mannes noch als der einer Frau zu gebrauchen – also konnte er kein Kind empfangen.
Von Beginn an hatte Kishoh ihn wie ein Exemplar einer seltenen, neuartigen Tierspezies behandelt, das er in seinen Besitz gebracht hatte und nun versuchte, es zu zähmen. Gerade jetzt war Sekkas Körper, der unterhalb des normalen Standards lag, für Kishoh nur eine seltene Trophäe.
Früher oder später würde Kishoh mit Sicherheit das Interesse an ihm verlieren. Und wenn es so weit war, so gab es eine Menge Konkubinen in seinem Harem, die wunderschön und willig waren.
Sekka tröstete sich mit dem Gedanken, dass er sich bis dahin einfach gedulden musste. Ganz egal, was es auch kostete, er musste diese Demütigung ertragen und auf eine Möglichkeit warten, bei der er dann seine Rache bekommen konnte. Und da man ihm verboten hatte zu sterben, konnte er nur am Leben bleiben.
Vor dem Zimmer warteten zwei von Eishuns untergebenen Eunuchen. Kishoh hatte ihnen persönlich befohlen, Sekka zu bewachen und zu eskortieren. Daher kamen sie nun immer mit, wenn Sekka einmal seine eigenen Gemächer verließ. Solange er sie nicht direkt ansprach, würden sie ebenfalls schweigen.
Als sie Yoh erreicht hatten, hatte Sekka erfahren, dass Eishun ebenfalls ein Eunuch war.
Er stammte aus einer Familie, die über Generationen hinweg eine große Zahl an hohen Beamten hervorgebracht hatte, doch zur Zeit des letzten Kaisers war sie in einen politischen Kampf hineingezogen worden. Eishuns Großonkel hatte daraufhin seinen Rang bei Hofe verloren. Doch auch wenn die Familie in Verbrechen verwickelt gewesen war, die die Todesstrafe gefordert hätten, so wurde die Strafe für Eishun und seinen Vater – die beide enge Bedienstete von Kishoh waren – gemildert und man hatte sie nur der Kastration unterzogen.
„Die Tatsache, dass ich heute immer noch am Leben bin, verdanke ich alleine Kishoh-sama. Er hat mich gerettet. Mein Leben liegt voll und ganz in den Händen seiner Majestät und ich werde ihm bis zu meinem Tode dienen“, hatte der ansonsten recht ruhige und gelassene Eishun gesagt; seine Stimme war voller Respekt. Es klang fast schon stolz und in seinen Augen lag nicht der leiseste Zweifel am Wahrheitsgehalt dieser Worte.
Sekka konnte Eishuns Gefühle nicht nachvollziehen. Eishun war als ein vollwertiger Mann geboren worden, doch sein Leben hatte sich aufgrund eines ungerechten Schicksals verdreht und verbogen. Und damit meinte er auch seine Loyalität gegenüber Kishoh.
Allerdings war es auch ein bisschen überraschend, dass scheinbar selbst eine so kaltblütige Person wie Kishoh menschliche Gefühle in sich trug.
Der Kaiser von Yoh war ein Alleinherrscher, der mit einer unglaublichen Menge an politischer Macht ausgestattet war. Für Kishoh, der zu dem damaligen Zeitpunkt nur ein Prinz gewesen war, war es ein durchaus gefährliches Wagnis gewesen, sich gegen den Willen des Kaisers zu stellen und eine Strafminderung für seine engsten Gehilfen zu erbitten.
Seit man ihn nach Yoh gebracht hatte, hatte Sekka begonnen, die Geschichte dieses Landes zu studieren – hauptsächlich um die Zeit tot zu schlagen – und so wusste er, dass es unzählige Beispiele in der Geschichte gab, in denen Kronprinzen auf direkten Befehl des Kaisers hin entthront wurden. Die Zahl der Prinzen, die zum Tode verurteilt worden waren, war sogar noch größer.
Es wäre nicht ungewöhnlich gewesen, wenn auch Kishoh einer dieser unglückseligen Prinzen geworden wäre. Dass er dennoch um einen Straferlass für diese zwei Menschen, die ihm so treu dienten, gebeten hatte, ohne sich dabei um das eigene Wohl zu sorgen…
In tiefes Nachdenken versunken verließ Sekka den Turm und bog auf einem Pfad in den Garten ein. Dann schob sich ein bizarres Ding in sein Blickfeld.
Es war der Kopf eines Huhns. Einige Schritte vor ihm lag achtlos hingeworfen ein abgetrennter Hühnerkopf. Und vom Körper fehlte jede Spur.
„Prinzessin…!“
Shohen und Baigyoku waren wie vom Donner gerührt und konnten sich nicht regen, als sich ihnen dieses groteske Bild bot. Es war nicht erstaunlich, dass sie so bestürzt reagierten. Als sie noch vor Kurzem auf ebendiesem Pfad zum Turm gegangen war, hatte dieses Ding noch nicht da gelegen. Und überhaupt war das nichts, was man normalerweise in einem Garten vorfinden würde oder was einfach so von Bäumen fiel.
„Wer würde uns denn so beunruhigen wollen…?“ Baigyoku war sehr blass geworden und zitterte vor Wut.
„Sag so etwas nicht!“, schalt Shohen ihre Gefährtin. Shohen wandte sich gleich mit sehr strenger Mine an die Eunuchen, die sie begleiteten: „Wie es scheint, war jemand sehr unvorsichtig und hat das hier fallen gelassen, als er Zutaten zur Küche brachte. Schafft das schnell weg, bevor es noch weiter die Augen der Ehrwürdigen Gemahlin schädigen kann. Und nur um sicher zu gehen, informiert auch Herrn Eishun darüber.“
„Jawohl.“ Beschämt gingen die Eunuchen auf die Knie und nahmen den Befehl entgegen. Einer von ihnen blieb zurück, um sich um den Kopf zu kümmern, während der andere Sekka noch immer eskortierte.
Als sie weiter gingen, konnte Sekka einen flüchtigen Blick auf den Hühnerkopf werfen.
Wahrscheinlich war es eines der Palasthühner. Offenbar hatte man es völlig ausbluten lassen und ihm erst dann den Kopf abgeschlagen. Es gab nur sehr wenig Blut um das abgetrennte Körperteil.
Dieser Weg hier war der kürzeste zwischen dem großen Turm des Palastes und dem Ort, wo Sekka wohnte. Es war nicht weit her geholt, wenn er nun annahm, dass jemand ihn absichtlich hier abgelegt hatte, während sie im Turm gewesen waren – wohl in der Hoffnung, dass Sekka mit seinem Gefolge auf genau diesem Weg wieder zurück gehen würde.
Die Wahrscheinlichkeit, dass dies kein Zufall oder Missgeschick gewesen war, sondern vielmehr eine beabsichtigte Aktion, war ziemlich hoch. Seit Sekka dem inneren Harem beigetreten war, hatte es viele solcher Vorfälle gegeben.
„Erst der Goldfisch, dann die toten Insekten und jetzt auch noch der Kopf eines Huhns. Was zum Henker wird als nächstes kommen? Vielleicht ein Schwein oder besser noch eine Kuh, wer weiß. Der Palast von Yoh ist wirklich ein sehr seltsamer Ort!“
„Beruhige dich, Baigyoku.“ Shohen versuchte ihre Gefährtin zu besänftigen, aber die musste sich erst noch abreagieren und zog nun über den Eunuchen her, der noch immer hinter ihnen lief. Der noch recht junge Eunuch schrumpfte in sich selbst zusammen und bat sie aufrichtig um Verzeihung.
Baigyoku hatte recht – es hatte mit dem Goldfisch begonnen. Im Seika-Hof – dem Ort, wo Sekka nun lebte – wurde ein Goldfischglas aus Porzellan umgestoßen und der Fisch darin war einfach auf dem Boden zurück gelassen worden und gestorben. Das Glas war groß und randvoll gewesen, also hätte es unmöglich von einer streunenden Katze oder etwas Ähnlichem umgeworfen werden können.
Wahrscheinlich war eine der Dienerinnen versehentlich dagegen gestoßen. Auch wenn das ein wenig verdächtig gewesen war, lag es noch im Rahmen des Möglichen. Als nächstes wurden jede Menge toter Insekten im Flur verstreut aufgefunden. Noch dazu in dem Flur, der direkt zu Sekkas Wohnzimmer führte.
Um den Goldfisch war es schade gewesen, doch bis auf die Tatsache, das man ihn und die toten Insekten hatte entsorgen müssen, hatte es keinen großen Schaden gegeben. Sekka hatte versucht, die Augen davor zu verschließen, doch da Baigyoku Eishun all diese Vorfälle berichtet hatte, erfuhr auch Kishoh davon.
„Warum hast du das vor mir geheim gehalten?“
Kishoh war sehr zornig geworden und in der ganzen folgenden Nacht wurde Sekka von ihm noch schlimmer drangsaliert als sonst. So sehr, dass er am nächsten Morgen sich den ganzen Tag über nicht aus dem Bett erheben konnte.
Sofort hatte Kishoh Eishun aufgetragen, diese Angelegenheit genau zu untersuchen und zudem noch zwei seiner untergebenen Eunuchen befohlen, nun immer nahe bei Sekka zu bleiben und ihn überall hin zu begleiten. Der Ergebnis war, dass am nächsten Tag zwei Mägde die Tat von selbst gestanden und nacheinander drei weitere Dienerinnen geschnappt wurden.
Als man die Mädchen befragte, bestätigten sie, dass noch eine weitere Dienerin involviert gewesen war, doch bevor Eishun sie fassen und ebenfalls verhören konnte, hatte sie sich bereits selbst erhängt und war gestorben.
Die anderen Dienerinnen wurden gehörig bestraft und des Palastes verwiesen – doch noch immer hörten die Übergriffe nicht auf. Diese Mädchen waren auch nur Handlanger gewesen. Der wahre Täter, der die Befehle nach unten weiter gab, war jemand anderes – und wahrscheinlich gab es mehrere von ihnen.
Auf jeden Fall war Sekkas Umgebung voller Feinde. Das betraf die Dienerinnen und die Konkubinen – aber auch Kishoh.
Es war Kishohs Schuld, dass die Dinge sich überhaupt erst in diese Richtung entwickelt hatten. Er hatte Sekka, der keine richtige Frau war, in seinen Harem aufgenommen und verhielt sich ihm gegenüber noch immer so maßlos.
Während Sekka weiter den Weg entlang schritt und seinen ärgerlichen Gedanken nachhing, konnte er sehen, wie sich ihm von der anderen Seite des Pfades ein Trupp an Leuten, die sehr pompös gekleidet waren, nährte.
„Ah, ist dies nicht die Ehrwürdige Gemahlin Li?“, rief eine der Frauen.
„Guten Morgen“, grüßte ihn die Gesegnete Gemahlin Bu mit einer eleganten Handbewegung. Die Stimme, die aus ihren roten Lippen kam, war süß wie dicker Sirup. Sekka erwiderte den Groß tadellos, wobei er allerdings ein Seufzen unterdrückte. Das alles war ja so nervig...
Die Gesegnete Gemahlin Bu mochte vielleicht um die Zwanzig sein, doch ihr Auftreten war weit selbstbewusster. Ihre Mine strahlte eine gewisse Arroganz aus, die den Frauen eigen war, die von Geburt an mit großer Schönheit gesegnet waren.
Tatsächlich sah die Gemahlin Bu geradezu überirdisch gut aus und mit ihren bezaubernden Kleidern und den luxuriösen Schmuck wirkte sie besonders hübsch. Was noch dazu kam: Sie stammte aus einer alten und ehrhaften Adelsfamilie und ihr Vater war der Premierminister – also konnte man auch über ihre Abstammung nicht murren.
Kishoh hatte drei Söhne. Drei Prinzen. Doch die Mutter des Ersten Prinzen – die Gnädige Gemahlin Go – war bereits gestorben. Sie hatte nach der Geburt noch im Wochenbett gelegen, als sich ihre Gesundheit massiv verschlechtert hatte. Daher galt nun die Mutter des Zweiten Prinzen – die Gesegnete Gemahlin Bu – als die Hauptkandidatin für den Thron der Kaiserin. Sie schien auch alle Geschicke im Inneren Palast und im Harem zu leiten – so als wäre sie quasi schon die Herrscherin. Für eine Frau, die nach dem Rang der Kaiserin strebte und die ihr eigenes Kind gerne als den Kronprinzen sehen würde, war das plötzliche Erscheinen der „Ehrwürdigen Gemahlin Li“ eine unerwartete Störung.
Was die Gesegnete Gemahlin Bu anging, so hatte Sekka sie bis jetzt nur bei speziellen Anlässen – wie zum Beispiel auf Banketten – getroffen. Bei diesen Gelegenheiten hatte sie ihn mit unfreundlichen Blicken bedacht und ihm indirekt oder auch ganz offen mitgeteilt, wie lästig ihr diese Unterhaltung war.
Gerade jetzt vermutete er, dass sie sich wohl auf die Lauer gelegt hatte, um ja nicht die Reaktion von Sekka und seinem Gefolge zu verpassen, wenn sie den Hühnerkopf fanden. Wenn man ihre Worte und Taten bis zum heutigen Tag entsprechend auslegte, wäre es nicht verwunderlich, wenn dies tatsächlich das Werk der Gesegneten Gemahlin Bu war.
„Wie ich sehe, tragt Ihr noch immer diesen Schleier“, sprach die Gesegnete Gemahlin Bu, indem sie eindeutig Unschuld vorheuchelte. Der Blick, mit dem sie Sekka bedachte, war voller Abneigung und Heimtücke. Die Dienerinnen hinter ihr warteten offenbar auch auf Sekkas Reaktion und stellten ein Lächeln zur Schau, in dem versteckte Hiebe lagen.
Ebenso wie in Ka galt auch in Yoh Weiß als eine Trauerfarbe. Sekka trug zwar keine Trauerkleider, doch um sein Gesicht vor anderen zu verstecken, legte er immer einen weißen Schleier an.
„Ja. Ich trauere um meine Familie“, antwortete Sekka emotionslos und mit leiser Stimme, da er merkte, wie Shohen und Baigyoku hinter ihm schon wieder wütend wurden.
Wenn er mit der Gesegneten Gemahlin Bu oder anderen Konkubinen in Kontakt kam, war er noch immer nervös, dass sie seine wahre Identität entdeckt könnten. Doch es hatte von Anfang an Vorurteile gegen die Prinzessin von Ka gegeben – daher waren solche Sticheleien und Übergriffe wohl auch nicht weiter verdächtig und hießen nicht zwangsläufig, dass sie hinter sein Geheimnis gekommen waren.
„Die Hingabe zu Eurem Elternhaus ist löblich“, sagte die Gesegnete Gemahlin Bu in offenbar aufrichtiger Bewunderung, während sie dabei langsam ihren Fächer schwenkte. Wann immer sie sich bewegte, waberte der Duft von parfümierten Kleidern und Räucherstäbchen durch die Luft und ihre verzierten Haarspangen und Juwelenhalsketten gaben helle Klänge von sich. „Allerdings hoffe ich doch, dass Ihr nicht vor habt für den Rest Eures Lebens Trauerkleider zu tragen? Wenn wir all Eure Familienmitglieder mit einberechnen würden, so fürchte ich, dass das an die hundert Jahre dauern könnte.“
Die Dienerinnen um die Gemahlin Bu herum kicherten bei diesen Worten. Die Trauerzeit für ein Elternteil betrug drei Jahre, für einen Bruder oder eine Schwester war es ein Jahr. Wenn man die Trauerzeit um seine Tante und Cousins und Cousinen dazu zählte, so würde Sekka, genau wie die Gemahlin Bu es angedeutet hatte, wohl wirklich an die hundert Jahre brauchen.
„Außerdem“, fuhr die Gesegnete Gemahlin Bu in bissigem Tonfall fort, „seine Majestät scheint bis jetzt ja darüber hinweg zu sehen, aber für wie lange gedenkt Ihr wohl, noch den Kleidungsstil Eures Landes zu tragen? Wenn die Person, die als die Ehrwürdige Gemahlin gilt, die Kleider eines anderen Landes trägt, macht das einen schlechtes Eindruck für das einfache Volk.“
Kishoh hatte ihm noch nie befohlen, Kleider im Stil von Yoh zu tragen. Als Sekka dem Harem beigetreten war, hatte Kishoh ihm einige Stoffbahnen mit den Worten Mach damit, was du willst als Geschenk überreicht – und seine Dienerinnen hatten den Schneidern befohlen, Kleider im Stile von Ka zu nähen.
Dank dessen konnte Sekka noch immer den selben Kleidungsstil tragen, an den er sich gewöhnt hatte, seit er der Stellvertreter für die eigene Schwester in Ka gewesen war. Er trug auch immer noch die ungewöhnliche Haarspange, die er von seiner Mutter erhalten hatte, sowie die Kette von Shohun.
Kishoh hatte ihm die Haarspange mit dem kleinen, versteckten Messer zurück gegeben – Sekkas letztes Andenken an seine Mutter. Er hatte es wahrscheinlich getan, da Sekka nun verstand, dass sie ihm nicht gegen Kishoh helfen würde – daherwar es nun auch nicht weiter schlimm, wenn er sie wieder in seinem Besitz hatte.
Es war zwar ärgerlich – aber tatsächlich war Sekka vor allem erleichtert und auch dankbar, dass ihm das Andenken an seine Mutter nicht entwendet worden war. Einmal abgesehen von der Haarspange gab es nichts, was ihn sonst noch an Kaiserin Yougetsu erinnern könnte.
„Meint Ihr nicht, es wäre besser, wenn Ihr Euch ein bisschen mehr bemühen würdet, Euch in die Bräuche unseres Landes einzugewöhnen? Ihr könntet das Interesse seiner Majestät verlieren, wenn Ihr weiterhin in Euren Klamotten aus Ka herumstolziert und einen Schleier tragt – selbst wenn Ihr gerade in Trauer seid. Ich sage das nur zum Wohle der Ehrwürdigen Gemahlin“, fügte die Gesegnete Gemahlin Bu ernst hinzu, obwohl die Boshaftigkeit unter ihrer lächelnden Fassade hervor sickerte.
„Ich danke Euch für Euren Rat. Ich werde die Worte der Gesegneten Gemahlin Bu im Hinterkopf behalten und mich für heute entschuldigen.“
Auch wenn sie beide den Rang einer Gemahlin inne hatten, so zollte Sekka ihr dennoch großen Respekt, da die Gesegnete Gemahlin Bu um drei Jahre älter war als er. Allerdings hatte er nicht die geringste Absicht, Kleider im Stile von Yoh zu tragen.
Yoh lag südlicher als Ka, also war das Klima hier auch wärmer. Dieser Unterschied war auch gut in dem Kleidungsstil der Frauen sichtbar. Die Frauen in Yoh bevorzugten knallige Farben und der Kragens war sehr tief geschnitten und saß locker. Er legte nicht nur die Rückseite des Halses bloß sondern auch einen guten Teil der Brust, und Shonen und Baigyoku bedachten diese Kleider immer mit einem finsteren Blick und schimpften, dass sie vulgär seien. Wenn Sekka solche Kleider tragen würde, würde die Tatsache, dass er keine Frau war, sehr leicht auffliegen.
„Oh, ja, das ist eine vortreffliche Antwort.“
Augenblicklich schlich sich ein beschämter Ausdruck auf das Gesicht von Gemahlin Bu. Wahrscheinlich dachte sie sich schon, dass ihre Worte keinen Einfluss auf Sekkas Verhalten haben würden. Doch gerade, als sie ihre roten Lippen erneut öffnen und wieder etwas sagen wollte, bahnte sich eine fröhliche Stimme zu ihnen durch.
„Ach je, was für eine Art Geheimgespräch haben denn diese zwei Schönheiten hier?“
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Innerer Palast: Der Innere Palast galt als die Wohn- und Privatgemächer der Kaiserfamilie und als Verwaltungsräume weiblicher Hofbeamte. Hier lebten die Kaiserin, Konkubinen und Nebenfrauen, sowie die Prinzen. Das ganze Privatleben spielte sich dort ab, aber auch die Verwaltungsstruktur, die weibliche Hofbeamte übernahmen (zumindest wenn man annimmt, dass die Geschichte in der Edo-Zeit spielt). Ich erlaube mir die Übersetzerfreiheit, diese Wortgruppe manchmal mit dem Wort „Harem“ zu umschreiben – wenn es um das Konstrukt aus Frauen und Konkubinen geht.
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die müssen ja alle neidisch sein das er den höchsten rang bekommen hat. diese intrigen dieser frauen kann ja fies sein wenn sie ihre rivalien weiter bekommen wollen. gut das bisher nicht viel passiert ist ausser das sekka immer gerufen wird. er sollte sekka mal ruhe gönnen und mal eine andere auswählen. ok wär ist diese fröhliche stimme die jetzt unverhofft auftaucht. danke für den einblick von inneren palast und freu mich wenns weiter geht.
AntwortenLöschenAch, Aerin, ich freue mich immer über deine zuverlässigen Kommentare!
LöschenJa, Sekka hat es nicht leicht, dass er jetzt als die Frau gesehen wird, die Kishoh am meisten bevorzugt. Was wirklich fies ist, immerhin hat er um nichts davon gebeten - und trotzdem machen ihn die anderen Frauen Vorwürfe und mobben ihn!
Ja, das mit der Palaststruktur ist nicht so einfach zu überblicken. Und es hört sich zwar komisch an, wenn man im Deutschen diese aufwändigen Titel wie "Gesegnete Gemahlin Bu" hat - aber mir fällt auch keine bessere Art ein, das zu umgehen.
Und wer ist wohl diese Stimme am Schluss? Kleiner Tipp: Kishoh ist es nicht ^^.