Kapitel 1: Gefangen - Teil 2

 


Sekkas Gefolge wurde gefangen genommen und in Yohs Armeelager geführt. Sie hatten es direkt vor dem Palast von Ka errichtet.

Man trennte sie vom Rest der Eskorte und führte Sekka mit seinen zwei Dienerinnen in ein separates Zelt.

Wie es schien, war dies das Zelt von Kaiser Kishoh höchstpersönlich. Es war größer als die anderen, deutlich stärker bewacht und im Inneren stand auf einem kleinen Podest mit Stufen ein großer Thron. Überraschenderweise gab es jedoch kaum prunkvolle Zierde oder Schmuck – und die Inneneinrichtung war wirklich sehr schlicht gehalten.

Momentan saß aber kein Kishoh auf dem Thron. Nachdem er zusammen mit Sekka und seinen Männern in das Lager gekommen war, hatte er sich gleich wieder von ihnen getrennt und seine Soldaten mitgenommen. Mit Sicherheit würde er nun persönlich die Streitkräfte anführen – um Ka endgültig einzunehmen.

Auch wenn man sie nicht grob behandelt hatte, waren Sekka die Hände hinter seinem Rücken gefesselt worden und nun zwang man ihn, sich auf den Teppich vor dem Thron niederzuknien. Für einen Adligen war das eine absolut demütigende Position.

Auch Shohen und Baigyoku hatte man die Hände gebunden. Sie knieten nahe dem Zelteingang. Da man sie noch immer von Soldaten beobachten ließ, wagte Sekka nicht, mit ihnen zu sprechen.

Selbst wenn sie sich gerade in einem Zelt befanden, so war das Getöse der Kriegstrommeln und das Kampfgebrüll der Soldaten gut zu hören. Allerdings war das nervtötende Dröhnen der Kanonen, die sie seit gestern geschossen hatten, verstummt.

Wahrscheinlich hatten die Streitkräfte von Yoh die Mauern des Palastes durchbrochen und waren nun in den Innenhof eingedrungen. Sekkas Miene verdüsterte sich noch mehr – er konnte fühlen, wie der drohende Fall des Schlosses immer näher rückte.

Er konnte nur hier knien und dabei zusehen, wie sein Land zerstört wurde. Als er nun daran dachte, welche Gefahr seiner Mutter und seiner Tante im Schloss bevor stand, verkrampfte sich seine Brust vor Unruhe und Sorge.

Kaiserin Yougetsu hatte ihm befohlen, in die Kleider seiner Schwester zu schlüpfen und aus dem Schloss zu fliehen, damit er am Leben bleiben konnte. Wenn Prinz Sekka überlebte, so könnte Ka eines Tages vielleicht wieder neu errichtet werden. Er war die letzte Hoffnung seiner Mutter gewesen.

Zumindest wenn er weit genug geflohen wäre – und sich nicht so einfach hätte gefangen nehmen lassen. Nun hatte man ihn ins Militärlager von Yoh gebracht – direkt ins Herz des Feindes. Er wusste nicht, wie man sie so schnell gefunden und aufgespürt hatte, doch ihre jetzige Lage war wirklich zum Verzweifeln.

Dieser Mann… Ryuu Kishoh… Was würde er jetzt mit Prinzessin Shungetsu machen? Was hatte er vor?

Würde er ihn als Geisel nutzen, um Ka zur Kapitulation zu zwingen? Selbst wenn das seine Absicht war, so würde Sekkas stolze Mutter sich nicht zwangsläufig ergeben.

Seine Mutter hatte sich schon lange mit dem Gedanken abgefunden, dass ihr Leben nicht mehr von langer Dauer sein würde. Sie erfüllte ihre Pflichten und trug die Würde einer Kaiserin auf den Schultern – und sie war bereit, das Schicksal ihres Landes zu teilen. Diese Einstellung hatten auch seine Tante Kougetsu und Shohun, die sich für eine solche Herrscherin opfern würden.

Er wollte nicht, dass sie durch ihn im Tode entehrt werden würden. Aber, ob nun auf die eine oder andere Weise – er war sich sicher, dass er selbst nicht gerettet werden konnte. Und gerade stand er durch die Soldaten unter einer so guter Beobachtung, dass selbst eine Flucht aus dem Zelt schon schwierig war.

Er war so wütend über die eigene Hilflosigkeit. Sekka ballte seine Hände so fest zusammen, dass sich seine Nägel tief in die Handflächen gruben.

Da er sich als die Prinzessin ausgegeben hatte, hatte man ihn bis jetzt noch nicht getötet. Wenn sich aber herausstellte, dass er ein Mann war, würden sie ihn wahrscheinlich auf der Stelle köpfen. Der Kaiser von Yoh würde einen solch feigen Prinzen – der als seine ältere Schwester verkleidet davon gelaufen war – gewiss nicht am Leben lassen.

Wenn das geschah, dann hätte er alles, was seine Mutter auf sich genommen hatte, um ihm die Flucht zu ermöglichen, vor die Wand gefahren. Und natürlich wäre dann auch die letzte Hoffnung auf einen Wiederaufbau von Ka verloren. Wie auch immer es stehen mochte – es schien so, als könne er die Erwartungen seiner Mutter einfach nicht erfüllen.

Während er noch die eigene Unfähigkeit verfluchte, drangen laute Stimmen aus der Nähe des Zelteingangs zu ihnen.

Das Zelt schwang auf und Kishoh trat begleitet von seinen Gefolgsmännern ein. Ein langes Paar Beine schritt zügig an Sekka vorbei, lief auf den Thron zu und setzte sich dann darauf nieder. Der Soldat mit der Narbe auf der Wange stand mit mehreren anderen Männern, die wie Zivilbeamte wirkten und die Kleider des kaiserlichen Hofes trugen, um Kishoh herum. Ihre Uniformen hatten die Farbe von verwaschener Tinte.

Prinzessin Shungetsu.“

Als ihn Kishoh ansprach, neigte sich Sekka zu einer kleinen Verbeugung nach vorn und hob dann den Kopf. Er sah sich sozial keineswegs in der Pflicht, dem Kaiser von Yoh – diesem Eroberer – seinen Respekt zu erweisen, aber es widerstrebte ihm, dass andere von ihm glauben würden, man hätte ihn schlecht erzogen.

Wir hatten erst kürzlich einen Boten in den Palast Eures Landes geschickt mit der Aufforderung, dass Ihr Euch ergeben sollt, doch das wurde abgelehnt. Es wird noch etwas dauern, ehe das Ergebnis dieser Schlacht feststeht. Bis dahin werdet Ihr in unserem Lager bleiben.“

Seine Stimme war so kalt, dass sie fast schon abweisend wirkte. Selbst sein Gesicht trug nicht die kleinste Spur auf eine tiefer gehende Gefühlsregung. Es war, als hätte dieser Mann schon unzählige Länder zerstört – ohne dabei auch nur einmal die Miene zu verziehen.

Es gibt da jemand, der Euch sehen möchte. General Sai, bringt ihn her.“

Der Mann mit der Narbe antwortete knapp und gab dann den Befehl an die Soldaten weiter. Bald darauf wurde ein Mann mit einem Knebel im Mund von zwei Wachen flankiert in das Zelt geführt. Die Hände waren hinter seinem Rücken gefesselt und auf seinem Gesicht waren eine Unmenge blauer Flecken und tiefer Schnitte zu sehen.

Als er Sekka erkannte, ergriff den Mann die Furcht. Er warf sich Sekka zu Füßen und versuchte, eine tiefe Verbeugung einzunehmen. Von oben gesehen sah er aus wie ein übergroßer Frosch. Während Kishoh ihn mit einem kühlen Blick beobachtete, richtete er das Wort an Sekka: „Erinnerst Ihr Euch an diesen Mann?“

„… Ja“, gab Sekka unwillig zu. Es wäre definitiv zu unnatürlich, wenn er jetzt noch weiter schweigen würde – und er musste jedes verdächtige Verhalten vermeiden.

Bei dem gefangenen Mann handelte es sich eindeutig um Shoh Shiyu. Er war ein direkter Untergebener des obersten Befehlsführer, der die Armee der Kaiserin befehligt hatte und vor drei Tagen während eines Gefechtes mit Yohs Armee an der Grenze gefallen war.

Das Heer von Ka, welches das Kampfgelände eigentlich perfekt kannte, hatte innerhalb von Minuten eine krachende Niederlage erlitten, da die Armee von Yoh unerwarteterweise in der Nacht angriff. Den Berichten zufolge waren – abgesehen vom obersten Befehlsführer der Armee – noch viele weitere Offiziere und Soldaten während dieser Attacke getötet wurden.

Sekka selbst hatte noch nie die Schwerter mit Shoh gekreuzt, der den obersten Befehlsführers stets begleitet hatte – doch er hatte ihn schon das eine oder andere Mal am kaiserlichen Hofe getroffen. Als das Heer an die Front gezogen war, hatte Sekka die Kaiserin vertreten und zusammen mit seiner Tante die Soldaten verabschiedet.

Natürlich wusste Shoh nicht, dass diese Prinzessin Shungetsu in Wahrheit Sekka war. Er wusste auch nicht, dass die echte Prinzessin nicht mehr unter ihnen weilte.

Diese Dame hier – ist das Prinzessin Shungetsu?“, fragte Kishoh an Shoh gewandt.

Die Soldaten entfernten den Knebel, doch Shoh krümmte nur stur seinen massigen Körper zusammen und antwortete nicht.

Antworte gefälligst auf die Fragen seiner Majestät!“, befahl der vernarbte Mann – General Sai – in scharfem Tonfall.

Die Soldaten packten den am Boden kauernden Shoh bei den Haaren und rissen seinen Kopf mit roher Gewalt nach oben. Zudem zogen sie auch noch ihre Schwerter und hielten sie gleich an Shohs Kehle. Sekka runzelte die Brauen angesichts dieser Brutalität.

Shoh schloss die Augen vor Resignation und antwortete mit heiserer Stimme: „… Das ist sie.“

Sekka wusste nicht, wie dieser Mann Yoh in die Hände gefallen war, doch offenbar hatten sie ihn hierher geschleift, damit er Sekka’s Identität bestätigen konnte.

Nach diesem erzwungenen Geständnis schien Kishoh endlich zu glauben, dass Sekka Prinzessin Shungetsu war. Dieser Mann war offenbar nicht nur tollkühn – sondern auch gerissen und stets auf der Hut.

Shoh wurde wieder geknebelt und aus dem Zelt geschleift. Shohen und Baigyoku sahen ihm vorwurfsvoll hinterher, doch Sekka konnte sich nicht dazu durchringen, auf ihn zornig zu sein. Er betete nur, dass dieser Mann einen Weg finden würde, am Leben zu bleiben.

Wie es scheint, besteht kein Zweifel mehr daran, dass Ihr Prinzessin Shungetsu seid.“

„… Was wird mit diesem Mann geschehen?“, fragte Sekka mit leiser Stimme. Er kniete direkt vor Kishoh und erwiderte seinen Blick ohne mit der Wimper zu zucken. Seine zurückhaltende Stimme, die einen recht ähnlichen Klang hatte wie die einer beherrschten Frau, trug nicht sehr weit in dem Zelt sie klang ganz natürlich.

Ihr sorgt Euch um ihn?“ Kishoh hob eine Augenbraue, sein Tonfall klang überrascht. Er starrte Sekka an und in seinem Blick lag deutliches Interesse.

Das tue ich bei jedem, der der Königsfamilie gegenüber loyal ist.“

Wenn das so ist, ist es mir erst recht nicht möglich, ihn freizulassen. Er kommt als Kriegsgefangener ins Gefängnis – zusammen mit den anderen Soldaten, die wir mit Euch aufgegriffen haben.“

Auch wenn seine Stimme klang, als würde er sich gerade amüsieren … sobald Sekka verstand, dass der Kaiser nicht vorhatte, Shoh und die Gefangenen zu töten, fühlte er die Erleichterung in sich. Die Soldaten, die ihn auf der Flucht beschützt hatten, würden sicher sein.

Bereitet ein Zelt für die Prinzessin und ihre Dienerinnen vor. Ich lege ihr Wohlergehen in deine fähigen Hände, Eishun.“

Verstanden.“

Kishoh hatte diesem Befehl einen jungen Mann gleich neben sich erteilt. Sekka schätzte ihn auf ein Alter, das dem von Kishoh recht nahekam. Anders aber als Kishoh, der ein Auftreten wie ein scharf geschliffenes Schwert hatte, wirkte der Charakter und das Benehmen des jungen Mannes mit dem Namen Eishun sanft.

Was ist mit ihren Fesseln?“

Die kannst du ihnen abnehmen – vorausgesetzt natürlich, dass du in deiner Aufgabe, sie gut zu bewachen, nicht nachlässig wirst“, erwiderte Kishoh und stand dann von seinem Thron auf. Er saß bereits erhöht, doch als er sich nun auch noch zu voller Größe aufrichtete, erschien er sogar noch einschüchternder als zuvor.

Bedenkt, dass wir noch immer Gefangene von Euch haben. Wenn Ihr nicht wollt, dass sie getötet werden, dann solltet Ihr keine Gedanken an eine Flucht oder Ähnliches verschwenden.“

Sekka schwieg. Nachdem er den Blick aus diesem Augenpaar, das reinste Willenskraft ausstrahlte, für einige Sekunden standgehalten hatte, senkte er schweigend den Kopf. Im Schatten des Schleiers, dem man wieder an seinem Haaransatz befestigt hatte, biss er sich auf die Lippen. Es war ärgerlich, dass Kishoh, dessen ganzer Körper die kraftvolle Ausstrahlung eines Monarchen besaß, ihn so leicht übertrumpfen konnte.

Der Kaiser ging zusammen mit General Sai aus dem Zelt.

Irgendwie war die Tatsache, dass Sekka ein Mann war, noch immer unentdeckt geblieben. Er hatte es geschafft, ein Treffen mit Kishoh, bei dem sie sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber gestanden hatten, zu überstehen. Sekka entfuhr ein leichtes Seufzen.

Eishuns Befehl wurde Folge geleistet und ihre Fesseln entfernt. Sekkas Dienerinnen wurden nun auch in die Mitte des Zeltes geführt.

Ich bin Kou Eishun. Seine Majestät hat mir befohlen, mich während Eures Aufenthaltes um Euch zu kümmern. Euer Zelt wird gerade noch vorbereitet, also wartet bitte noch einen Moment hier drin.“

Wenn man bedachte, dass er gerade zur Prinzessin eines verfeindeten Landes sprach, war Eishuns Verhalten recht neutral, wobei er aber durchweg höflich wirkte. Sekka konnte ihm natürlich nicht ins Herz blicken, aber zumindest zeigte er nach außen hin ihnen gegenüber keine Feindseligkeit. Sekka beschränkte sich darauf, den Kopf in einer angedeuteten Verbeugung zu neigen – wie es auch eine echte Prinzessin getan hätte.

Nach einer kurzen Weile kam dann endlich ein Soldat herein und informierte Eishun, dass sie mit den Vorbereitungen für das Zelt fertig wären.

Verzeiht, dass ich Euch habe warten lassen. Bitte folgt mir.“

Unter Eishuns Führung zogen sie in ein anderes, nahe gelegenes Zelt um. Zwar hatte man ihnen die Fesseln entfernt, doch die Soldaten blieben auch weiterhin wachsam und behielten sie gut im Auge, sodass es keine Gelegenheiten zur Flucht gab. Um das Zelt, zu dem man sie führte, standen ebenfalls Wachposten herum, die alles im Blick behielten.

Eure Sachen liegen schon drinnen bereit. Wenn es noch irgendetwas gibt, was Ihr benötigt – was auch immer es sei – lasst es mich wissen.“ Eishun mochte wirklich wie ein umgänglicher Jugendlicher wirken, doch er war auch ein fähiger Beamte und so vergaß er nicht, sie noch zu warnen: „Wie seine Majestät es befohlen hat, wird das Zelt der Prinzessin von einigen Soldaten bewacht. Bitte vergebt mir diese Vorkehrung – aber wenn die Wachen feststellen, dass Ihr verschwunden seid, werde ich die Konsequenzen tragen müssen.“

Eishun verschränkte die Arme vor dem Körper, verbeugte sich und ging zusammen mit den Soldaten hinaus.

Nachdem er sicher war, dass sie sich wirklich entfernt hatten, nahm Sekka den Schleier ab und sah sich im Inneren des Zeltes um. Es war kleiner als das von Kishoh, doch man hatte einen Teppich auf den Boden ausgelegt und die Möbel sahen bequem und komfortabel aus.

Mein Prinz Sekka“, flüsterte Baigyoku, während sie ihre Umgebung misstrauisch in Augenschein nahm, „was wird nun aus uns geschehen?“

Das weiß ich auch nicht, aber es scheint zumindest so, dass sie nicht vorhaben uns zu töten.“

Zu sich selbst gewandt dachte Sekka: Ich weiß nicht, was mit uns geschehen wird, aber… erst einmal sollte ich wohl weiter in der Rolle der Prinzessin bleiben, die ja offenbar für den Feind einen Nutzen hatzumindest sieht es danach aus.

Dass sie ausgerechnet von einem Trupp, den der Kaiser höchstpersönlich angeführt hatte, gefangen genommen worden waren, war wirklich ein riesiges Glück im Unglück gewesen. Hätte sie ein rangniederer Kommandant gefunden, der seine Männer nicht richtig unter Kontrolle gehalten hätte, so wären Sekkas Soldaten wahrscheinlich getötet und alle anderen geschändet worden. Und natürlich hätte man dann Sekkas Geheimnis im hellsten Tageslicht enthüllt.

Wenn es so weit gekommen wäre, so hätte er sich wohl lieber die eigene Zunge abgebissen und den Tod gewählt. Als ihm klar wurde, dass so etwas durchaus hätte passieren können, lief es ihm kalt den Rücken runter.

Es schien, als wären sie dem schlimmstmöglichen Szenario entkommen. Und das alles dank der Kleider seiner älteren Schwester, die er auf Wunsch seiner Mutter trug.

Doch ihr eigentlicher Plan hatte sich in keinster Weise erfüllt. Es blieb eine Tatsache, dass sein Leben noch immer in Gefahr schwebte.

Fürs Erste sollte er sich weiter als die Prinzessin ausgeben. Und eigentlich sollte er – bevor er an so etwas dachte – lieber versuchen, aus dem Militärlager von Yoh zu fliehen. Je länger er über all das nachdachte, desto unerträglicher wurde das Warten.

Sekka spürte bei diesen Gedanken, wie er Mitgefühl für seine beiden Dienerinnen hatte. Er empfand auch Mitleid für die Soldaten, die ihn begleitet hatten und von Kishohs Getreuen während ihrer Gefangennahme getötet wurden. Diese Männer hatten gewiss auch Frauen, Kinder, Eltern und Geschwister gehabt – und ihm doch voller Hingabe gedient.

Wenn ihr beide mir weiterhin folgen werdet, so werdet ihr ohne Zweifel viel Elend erdulden müssen“, sagte er nun.

Was meint Ihr damit?“ Shohen schüttelte bereits abwehrend den Kopf, ihre Augen glitzerten feucht. Auch wenn seit der Flucht am Morgen ihr zartes Gesicht mit Wachsamkeit durchzogen war, so lag in ihren Augen, mit denen sie nun Sekka ansahen, eine versteckte Stärke. „Darauf war ich schon seit dem Moment gefasst, an dem Ihre Majestät uns diesen Befehl gegeben hat.“

Ich auch! Ganz egal was auch geschieht, ich werde Euch bis zum Ende dienen“, rief Baigyoku entschieden.

Shohen war die ältere der zwei, aber sie beide hatten Yougetsu treu gedient, seit sie gerade mal selbst noch junge Mädchen gewesen waren. Sie hatten Yougetsus Vertrauen und ihre Zuneigung gewonnen, und waren später damit betraut worden, Sekkas Dienerinnen zu sein.

Ah, was für ein Glück! Die Kleider in den Truhen sind noch alle heil.“

Shohen und Baigyoku freuten sich, als sie in den Truhen, die man ihnen ins Zelt gebracht hatte, die ganze Wäsche unbeschadet vorfanden. Es waren Shungetsus Sachen. Sekkas Mutter hatte ihnen befohlen, sie alle mitzunehmen.

Die zwei Dienerinnen konzentrierten sich nun ganz darauf, eine angenehme Atmosphäre im Inneren des Zeltes zu schaffen. Als er das sah, schienen die Gefühle in Sekkas Brust wieder in eine sanftere Richtung gelenkt zu werden.

Sie waren dem Feind in die Hände gefallen. Doch obwohl er sich in einer solch misslichen Lage befand, konnte Sekka spüren, wie ihn allein schon die Anwesenheit dieser zwei Mädchen bestärkte.

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Später dann brachte ihnen Eishun Tee und etwas zu Essen, doch er gab keine Auskunft über den Verlauf der Schlacht. Selbst als sie ihn danach fragten, sagte er nur Bitte wartet erst einmal hier – ohne ihnen noch nähere Erklärungen zu liefern.

Die Zeit verstrich quälend langsam. Nachdem sie das Militärlager von Yoh betreten hatten, hatte man zunächst noch die Geräusche der Kriegstrommeln und Waffen gehört, doch nun konnte man diese Laute nur noch ganz schwach wahrnehmen – so als würden sie aus weiter Ferne stammen.

Dies lag wahrscheinlich daran, dass die Armee von Yoh in das Palastinnere eingedrungen war. Da er hier im Zelt eingesperrt saß und keine Möglichkeit hatte, nach draußen zu sehen, konnte Sekka die momentane Situation auch nicht beurteilen.

Der Gewürztee trug nicht im Mindesten dazu bei, sein Herz zu beruhigen – er bekam ihn kaum hinunter. Er hatte auch keinen Appetit, doch da sich Shohen und Baigyoku Sorgen machten, zwang er sich, ein bisschen was zu essen.

Mit Sonnenuntergang kam die Nacht.

Auch wenn er sich auf das Bett legte, das die zwei Mädchen für ihn bereitet hatten, war es offenkundig, dass Sekka nicht schlafen konnte. Er gab ein schläfriges Grunzen von sich, als er merkte, wie besorgt die Mädchen auf der anderen Seite des Raumteilers waren. Die beiden waren an diesem Tag eine lange Zeit unterwegs gewesen und sie schienen ein bisschen wegzudösen – zumal es erst wieder in einigen Stunden hell wurde.

Und endlich brach nach einer sehr langen Nacht der Morgen an.

Sekka war sein Aussehen herzlich egal, doch Shohen und Baigyoku kleideten ihn in kunstvolle Gewänder. Sie kämmten ihm sorgsam das Haar, steckten es zu einer schönen Frisur hoch und trugen Make-up auf. Sie mussten gerade die Beschwernisse einer Gefangenschaft erdulden, und doch kleideten sie ihre Herrin, die Prinzessin, so schön sie es vermochten. Wahrscheinlich brauchten sie das, um zumindest noch ihren Stolz als Dienerinnen des Kaiserpalastes zu bewahren.

Ihr seht heute wieder bezaubernd aus“, seufzte Baigyoku entzückt, als sie die kunstvoll verzierte Spange, die Yougetsu ihnen mitgegeben hatte, in Sekkas Haar befestigte.

Sekka erschienen diese lobende Worte ein bisschen übertrieben, doch das Gesicht, das ihm aus dem Spiegel entgegenblickte, war tatsächlich ein exaktes Ebenbild von dem seiner Schwester. Schon von Anfang war sein Kehlkopf nicht sehr ausgeprägt gewesen. Es war wirklich schwer, allein von seinem Aussehen darauf zu schließen, dass er ein Mann war.

Selbst wenn er die Erscheinung seiner Schwester hatte, musste er einen Weg finden, wie er am besten überleben konnte. Der letzte Tag hatte sich so lang angefühlt. Er musste zum Wohle seiner Mutter durchhalten. Er schuldete es ihr, da sie ihm bei der Flucht aus dem Schloss geholfen hatte. Sekka versuchte sich, noch immer in den Spiegel blickend, mit diesen Gedanken Mut zu machen.

Vergebt mit mein Eindringen, Prinzessin Shungetsu.“

Zufällig drang, gleich nachdem sie mit der Morgenwäsche fertig waren, außerhalb des Zeltes Eishun’s Stimme zu ihnen. Beigyoku ging zum Zelteingang, um den Vermittler zu spielen, und kehrte kurz danach mit sorgenvoller Miene an Sekkas Seite zurück.

Der Kaiser verlangt Euch zu sehen, Shungetsu-sama.“

Sekka fühlte, wie sein Herz einen mächtigen Satz machte. Nach einem kurzen Moment kam es wieder etwas zur Ruhe. Was es denn möglich, dass man seine wahre Identität entdeckt hatte? Ein anderer Grund fiel Sekka nicht ein, warum Kishoh nun so plötzlich nach ihm verlangen sollte.

Ich verstehe. Dann lasst uns gehen.“

Sekka wappnete sich, befestigte den Schleier und nährte sich dem Ausgang des Zelts.

Als Shohun und Baigyoku ihm nach draußen folgen wollten, wurden beide von Eishun zurückgehalten: „Eure Majestät wünscht Euch allein zu sehen, Prinzessin. Eure Dienerinnen sollen hier warten.“

Die Mädchen protestierten mit bleichen Gesichtern, doch da dies der Befehl des Kaisers war, gab Eishun nicht nach – auch wenn seine Mine besorgt wirkte. Sekka sagte beiden Dienerinnen, dass sie auf ihn warten sollten – dann verließ er zusammen mit Eishun das Zelt.

Auch heute war die Luft erfüllt vom klaren Duft des Frühlings. Endlich wich der Winter auch aus dem Lande Ka und die Kirschbäume trugen schon die ersten Blüten. Würden die Dinge nicht so schlimm stehen, wie es gerade der Fall war, so hätten sie um diese Jahreszeit bald das Kirschblütenfest Hanami gefeiert.

Als er sich an das Kirschblütenfest des letzten Jahres erinnerte, verkrampfte sich Sekkas Herz erneut gequält. Seine ältere Schwester, die sich damals vor Lachkrämpfen geschüttelt hatte, als sie den Akrobaten des Westens bei ihren Kunststückchen zusahen, weilte nicht mehr länger unter ihnen.

Auch wenn man ihm die Hände nicht gefesselt hatte, so war er doch von Soldaten umgeben und Eishun führte diese Prozession zu Kishohs Zelt.

Ich bringe Euch Prinzessin Shungetsu.“

Kishoh war in eine Karte vertieft, die er auf seinem Tisch ausgebreitet hatte, doch er hob den Kopf, als Eishun eintraf und ihn grüßte. Auch heute war dieser Mann wieder komplett in Schwarz gekleidet.

Um der Würde einer Prinzessin gerecht zu werden, verneigte sich Sekka einmal mit vor den Körper gefalteten Armen. Er war nervös und alleine schon Kishohs Augen zu begegnen, verursachte in seiner Brust ein unerträglich summendes Gefühl. Oder vielleicht lag es ja auch an diesem scharfen Blick, der alles und jeden zu durchbohren schien.

Als er so vor Sekka stand, begann Kishoh ohne Umschweife zu sprechen: „Der kaiserliche Palast Eures Landes ist gefallen.“

Das kam so plötzlich, dass Sekka nach Luft schnappte; ein scharfer Ton entfloh seiner Kehle. Seine Mutter, seine Tante und auch Shohun… Er hätte darauf gefasst sein müssen, doch tatsächlich wurde nun alles vor seinen Augen schwarz. Er schaffte es gerade noch, sich auf den Beinen zu halten, und nicht umzufallen, da er vor seinen Feinden nicht diese Blöße zeigen wollte.

Wie es scheint haben Eure Mutter sowie beinah alle vom Rest der kaiserlichen Familie Selbstmord begangen.“

Sekka berührte mit zitternden Fingern seine Halskette, als er hörte, wie Kishoh ihm herzlos den Tod seiner ganzen Familie mitteilte. Er rief sich das Gefühl von Shohuns großen, warmen Händen in Erinnerung, als er ihm erst gestern noch das enge Schmuckstück um den Hals gelegt hatte. Nicht ein einziges Mal hatte er ihn Vater genannt, und nun war diese Halskette das einzige Erinnerungsstück an ihn…

Sekkas erstarrtes Gesicht spiegelte sich in Kishohs tiefen, schwarzen Augen. In seinem Blick lag keine Häme, doch auch kein Erbarmen oder Mitleid.

Wir werden schon bald zu einer Inspektion in den Königspalast aufbrechen. Prinzessin Shungetsu, was den Palast betrifft…“

Bitte nehmt mich mit.“

Kishoh, der gerade mitten in seiner Rede unterbrochen worden war, hob nur ruhig eine Augenbraue. Er schien von Sekkas Benehmen und seinem Tonfall eher überrascht als verärgert zu sein. Er war ein Mann, der nicht lange um den heißen Brei herum redete, daher brachte er seine Gedanken auch gleich auf den Punkt.

Der Kampf ist gerade erst vorbei und soweit ich gehört habe, ist noch alles in dem Zustand wie zum Ende der Schlacht. Da Ihr eine Prinzessin seid, könntet Ihr dort Szenen sehen, die Ihr nicht verkraften …“

Das ist mich gleich“, fuhr Sekka mit leiser, aber fester Stimme fort. „Ich bin bereit, mir alles anzusehen.“

Ganz egal wie grauenvoll es auch sein mochte, so musste er doch die letzten Momente seiner Familie mit eigenen Augen bezeugen. Dies war seine Pflicht als letztes lebendes Mitglied der Königsfamilie Li.

Nachdem er Sekkas Gesicht für einen kurzen Moment lang gemustert und seine Entschlossenheit eingeschätzt hatte, stieß Kishoh ein kleines Seufzen aus: „Also gut. Dann werdet Ihr uns begleiten.“


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Sanda plaudert aus dem Übersetzerstübchen:
Ich habe wirklich lange mit mir gehadert, ob ich Kishoh von sich selbst in der 1. Person Singular oder 1. Person Plural sprechen lasse. Im Original nutzt er nämlich das königliche Wir. Zugegeben es würde passen - hat mich aber beim Lesen sehr gestört und zeitweise auch verwirrt. Also hier die Entscheidung der Übersetzerin: Er nutzt 1. Person Singular! Das gibt ihm auch einen etwas menschlicheren Touch - und den hat diese Figur schon nötig!


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Glossar

6 Kommentare:

  1. sekka hatte glück das er noch nicht enttarnt wurde. auch hat er erfahren das einige von den soldaten noch leben und in gefangen schafft sind. es ist schlimm zu hören das sie sich das leben genommen haben. ich kanns verstehen das er es sehen will nur die frage ob er das auch verkraften wird ohne sich zu enttarnen. der was auf sie aufpasste hatte einen guten anstand das er sie freundlich neutral behandelt hat. er darf mit mal sehen was er zu sehen bekommt.

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    1. Es hätte ihn auf jeden Fall deutlich schlimmer treffen können... Vorteil ist natürlich, dass Sekka schon lange weiß, wie man sich als bestes als eine Frau ausgibt. Trotzdem muss er natürlich höllisch aufpassen :)

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  2. Danke, dass du uns an der Geschichte teilhaben lässt. Finde sie bis dato sehr interessant und freue mich schon auf die nächsten Teile.
    Einen ruhigen Arbeitstag =)

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    1. Ah, danke für das Kommentar. Ich freu mich, dass dir die Geschichte (trotz des langsamen Tempos) gefällt. Ging heute von der Arbeit her, aber einen Schnupfen hatte ich mir die letzten Tage eingefangen. Das sollte hoffentlich nicht zur Gewohnheit werden xD

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  3. Also das Bild ganz oben gefällt mir, hast du das selber bearbeitet?
    Sekka wird also im Prinzip im goldenen Käfig gefangen gehalten. Er hat Luxus um sich herum, seine zwei Dienerinnen und seine ganze Kleidung, aber Sekka würde auf all das bestimmt gerne verzichten und hätte lieber seine Freiheit wieder.
    Ob Sekka diesen Anblick seines gefallenen Landes und all die Toten gut verkraften kann?
    Oh man da berichtet Kishoh ganz trocken dem armen Sekka, dass seine ganze Familie Suizid begangen hat. Für Kishoh ist das wahrscheinlich nichts mehr als zu Außergewöhnliches, immerhin haben, dass schon Familien vor Sekkas getan. Aber trotzdem ein bisschen mehr Empathie wäre nicht schlecht.
    Das mit dem von sich selbst im Plural sprechen, kenne ich. Bei Stars o Chaos machen, dass die Kaiser auch so, aber zum Glück haben die nicht so viel Text, dass einem großartig verwirren oder nerven könnte.

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    1. Na ja, das Bild selbst hatte ich mir aus dem Header für "Secret Nights" geschnappt - aber es hatte sich bei mir so eingebürgert, jedes neue Kapitel auf Social Media anzukündigen (und das macht sich mit Bildern am besten). Und da man dann sowieso ein Bild hat, baue ich es gerne noch in das Kapitel mit ein. Bei meinem eigenen Husky-Blog mache ich das "Arc-weise", aber Secret Night hat so wenig Kapitel ... da bleibt es bei diesem einen Bild und ich ändere nur die Kapitelüberschriften xD
      Dieses königliche Wir ist hier irgendwie nicht mehr zeitgemäß und mich hat es (vor allem bei speziellen Szenen in den nächsten Kapiteln) sehr gestört. Also hier habe ich meine kleine, übersetzerische Freiheit geltend gemacht ;)

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