Kapitel 1: Gefangen - Teil 1



Der Palast brannte.

Als er endlich aus dem Geheimgang nach draußen trat, sah sich der erste königliche Prinz des Landes Ka – Li Sekka – um. Er schluckte, als er durch die Bäume des Waldes hindurch auf das entfernte, in den Himmel ragende Schloss blickte.

Die zwei Dienerinnen, die ihn begleitet hatten, schrien ebenfalls auf – die Stimmen voller Kummer.

Unter dem Angriff des Feindes waren die äußeren Mauern eingestürzt und das westliche Tor war in Flammen gehüllt. Weißer Qualm stand wie eine Säule in der klaren Frühlingsluft und machte all das Elend nur noch schmerzhafter.

… Mutter…

Sekka fragte sich, wie es um seine Mutter und seine Tante stand, die noch immer im Königspalast waren. Selbst wenn er nun weit vom Ort des eigentlichen Geschehens entfernt war, so wurde das Getöse der Kanonen und Katapulte, die unablässig auf die Schlossmauern abgefeuert wurden, vom Winde zu ihm getragen und man konnte sich leicht die Schlacht vorstellen.

Um den königlichen Palast herum gab es mehrere Reihen von sich abwechselnden Schlossmauern und Festungsgräben. Sie waren massiv gebaut und abschreckend – doch wenn ein Nachbarland eine große Armee mit modernsten Waffen hatte, so war ein Überfall nur eine Frage der Zeit.

Seine Heimat – das Land Ka – lag im Nordwesten des Binnenlandes. Es war sehr fruchtbar und das herausragendste Merkmal der Landschaft waren die vielen Berge und Flüsse. Der Staat, in dem er geboren und aufgewachsen war, würde schon bald vom Feind pulverisiert werden und fallen.

Unter dem Schleier, der dein Gesicht verhüllt, biss sich Sekka auf die Lippen. Sie röteten sich durch den Druck noch mehr – obwohl sie bereits mit einem Rot bemalt waren, das an Blut erinnerte. Als er auf Wunsch seiner Mutter aus dem königlichen Palast geflohen war, hatte er sich Make-up aufgetragen und die Kleider seiner Schwester angelegt.

„Ganz egal was geschieht, du musst überleben.“

Das war der letzte Befehl seiner Mutter von ihrem Krankenbett aus gewesen. Unter Aufbietung all ihrer schwindenden Kräfte hatte sie zu Sekka gesagt: „Lebe! Ich lege das Erbe unseres Landes in deine Hände.“

Erst vor einer Woche war ein Abgesandter von der Supermacht des Binnenlandes – dem Reich Yoh – zu ihnen gekommen und hatte ihnen empfohlen sich zu ergeben.

Einen halben Monat zuvor hatte Yoh ein angrenzendes Nachbarland überfallen und gestürzt. Es ging das Gerücht, dass die Königsfamilie alle Selbstmord begangen hatten und die noch übrigen Familienmitglieder gefangen genommen und in die königliche Hauptstadt von Yoh abgeführt worden waren.

Kurz nachdem die Nachricht von der Zerstörung ihres Nachbarstaats das Land Ka erreicht hatte, war der Bote aus Yoh gekommen. Sie hatten sich noch mitten in den Vorbereitungen befunden, um sich gegen die Armee von Yoh zu wappnen.

Die einzigen Optionen, die ihnen blieben, seien die Kapitulation oder der Tod.

Es war eine grausame Wahl, vor die Yoh sie stellte.

Unter all den Ländern der Mitte war Ka in dem Sinne einzigartig, dass der Thron in der weiblichen Linie der Königsfamilie vererbt wurde. Seit Generationen regierten Kaiserinnen das Land und wahrten seine Unabhängigkeit. Manchmal geschah das durch geschickte Diplomatie, manchmal auch durch militärische Stärke.

Die Soldaten von Ka waren für ihre Unerschrockenheit und ihren Mut bekannt und bis zum heutigen Tage hatten sie jeden Angriff eines einmarschierenden Landes aufgehalten. Es wurde gesagt, dass sie vor etwa zwanzig Jahren – zur Zeit der letzten Kaiserin – schon einmal die Streitkräfte von Yoh, die an ihren Grenzen standen, zurückgeschlagen hatten. Dies war eine Geschichte, die seine Tante Li Kougetsu immer prahlerisch zum Besten gegeben hatte.

Die jetzige Kaiserin, Sekkas Mutter Li Yougetsu, hatte auch nicht die Absicht, sich Yoh zu unterwerfen. Denn selbst wenn sie kapitulierten, so würde sie doch sicher alle eine Schande erwarten, die man dem Tod gleichsetzen konnte.

Im letzten Jahr waren alle südlichen Länder Yohs Angriffsziele geworden. Die meisten von ihnen wurden militärisch eingenommen und die Regierung gestürzt – alle restlichen ergaben sich und wurden niedere Vasallenstaaten Yohs. Selbst im Falle einer Kapitulation wurde der Herrscher gefangen genommen und die Königsfamilie als Geiseln in die Hauptstadt abgeführt. Es ging sogar das Gerücht, dass der König eines gewissen Landes, der sich dem Kaiser von Yoh widersetzt hatte, in die Hauptstadt gebracht und während eines großen Spektakels geköpft worden war.

Sekka hatte gehört, dass vor einigen Jahren der ehemalige Kaiser von Yoh gestorben war, und in den darauf folgenden Familienstreitigkeiten hatte sich der dritte Prinz gegen alle anderen behaupten können und sich krönen lassen. Selbst große Kaiserreiche konnten von inneren Unruhen zu Fall gebracht werden, daher hatte der neue Kaiser sich erst einmal um die innerpolitischen Angelegenheiten kümmern und seinen Staatsapparat neu organisieren müssen. Das war im letzten Jahr geschehen. Nun hatte er begonnen, außerpolitische Projekte in Angriff zu nehmen.

Der jetzige Kaiser schien ein Mann zu sein, der manchmal auch persönlich an die Front marschierte und er galt als erstaunlich talentiert. Sekka wusste nicht, ob es nun an seiner Fähigkeit lag, seine Soldaten an genau den richtigen Stellen zu positionieren, oder ob er einfach ein guter Stratege war – doch bis jetzt hatte dieser Kaiser sein Territorium stets habgierig erweitert, ohne auch nur eine einzige Niederlage einzustecken.

In einem Alter von nur 20 Jahren hatte dieser Kaiser seine Nachbarländer unterworfen und das Reich Yoh zum mächtigsten und größten Land der Mitte gemacht. Es war ärgerlich, aber der Kräfteunterschied zwischen Yoh und Ka war mehr als deutlich. Wenn man einmal zu Yohs neuem Ziel wurde, war das Resultat für kleine Länder wie Ka immer gleich, ganz egal welchen Weg sie auch einschlagen mochten.

Und genauso hatte seine Mutter, als der Bote von Yoh gekommen war, eine ganz klare Entscheidung getroffen. Ka konnte nicht mehr auf dieselbe Art weiter existieren wie bisher. Sie selbst lag auf dem Krankenbett und es gab keine weitere königliche Prinzessin mehr, die den Thron übernehmen konnte.

„Shungetsu-sama, bitte beeilt Euch.“

Aufgefordert durch die Soldaten, die sie durch den Geheimgang begleitet hatten, setzte sich Sekka in Bewegung, selbst wenn ihm das Herz furchtbar schwer war.

Die zwei Dienerinnen Shohen und Baigyoku, die ihm geholfen hatten sich anzukleiden, kannten die Wahrheit, doch die fünf Wachen glaubten fest, dass Sekka die königliche Prinzessin Shungetsu war. Tatsächlich galt die Loyalität der Wachen von Rechts wegen nur seiner älteren Schwester.

Der Geheimgang aus dem Schloss hatte sie zu einem alten, kleinen Schrein außerhalb der Schlossmauern geführt. Das umgebende Gelände gehörte einst einer florierenden Stadt in Ka, doch nun lebte hier schon lange niemand mehr und der Wald hatte schon halb begonnen, sich alles zurückzuerobern. Der kleine Tempel, der der Göttin der Fruchtbarkeit gewidmet worden war, war ebenfalls verlassen, doch für Notfälle wurde der bestehende Tunnel immer noch in gutem Zustand gehalten.

Begleitet von den Wachen eilten sie auf einen Wildwechselpfad voran. Das Sonnenlicht wurde durch die Bäume abgeschirmt und so wirkte der Wald trotz der Mittagsstunde düster und war nur matt beleuchtet. Der einzige Ort, an den sie sich noch wenden konnten, lag im Norden. Sie wollten bei dem Stamm, der am Fuß des Berges an der Grenze von Ka lag, Zuflucht suchen.

Keiner von ihnen ertrug es mehr zurückzublicken, und so konnten sie nichts tun, als weiterzueilen. Sekkas Herz schmerzte, als er daran dachte, dass er der Einzige war, der aus dem Königspalast hatte fliehen können.

Er fragte sich, wie es dazu gekommen war. Wenn seine ältere Schwester – die einstige kaiserliche Erbin – noch gelebt hätte, so glaubte er, dass die Dinge anders gelaufen wären. Zumindest hätte es dann nicht so schlimm um seine Mutter gestanden.

Im vergangenen Herbst war seine ältere Schwester Shungetsu plötzlich erkrankt und gestorben, doch dies war nicht publik gemacht worden.

Shungetsu war im Volk als die kaiserliche Erbin stets respektiert worden und sehr beliebt gewesen. Mit ihrer schnellen und lockeren Art, ihren zum Teil sehr geistreichen Reden und dem lebhaften Auftreten hatte sie ihre Umgebung immer in den Bann ziehen können. Die Menschen, die für sie arbeiteten, egal ob nun Dienerinnen oder Stallburschen, hatten sie alle geradezu vergöttert, ganz gleich wie wenig Anlass sie auch dazu gehabt hatten.

Shungetsu war auch immer der Vermittler zwischen Sekka und seiner Mutter gewesen. Was Sekka betraf, so sah er Yougetsu eher als seine Kaiserin denn als Mutter an, doch wenn seine Schwester dabei war, hatten sie durchaus auch mal ein Gespräch führen können, das in gewisser Art einem Wortwechsel zwischen Kind und Elternteil nahe gekommen war.

Für seine Mutter wiederum war Shungetsu eine verlässliche Beraterin gewesen. Ein einziger Blick hatte gereicht, um zu erkennen, welch hohe Erwartungen seine Mutter in seine ältere Schwester gehabt hatte.

Wenn Shungetsu die nächste Kaiserin geworden wäre, so hätte sie aus Ka ein friedliches Land gemacht. Was seine Mutter und die Berater bei Hofe betraf, so war Sekkas Schwester ein Leuchtfeuer der Hoffnung gewesen.

Doch dann war Shungetsu unerwartet erkrankt und viel zu früh gestorben. Sie war gerade einmal siebzehn Jahre alt gewesen.

Seine hartherzige und kühne Mutter hatte den Schmerz, ihre geliebte Tochter verloren zu haben, nicht verkraftet und sich langsam von den Regierungsgeschäften zurückgezogen. Und infolgedessen war es jetzt zur Eroberung durch Yoh gekommen.

Wenn er mit seiner Schwester hätte tauschen können, so hätte Sekka das getan. Es wäre besser gewesen, wenn der Tod ihn – und nicht Shungetsu – ereilt hätte. Seit sie gestorben war hatte er diese Schuldgefühle nicht abschütteln können und wieder und wieder hatte er sich gefragt, warum einer solcher Nichtsnutz wie er noch immer lebte, wohingegen seine Schwester schon im Jenseits war.

Wahrscheinlich hatte der Todestag seiner Schwester indirekt den Untergang des Landes Ka eingeläutet.

Oder vielleicht hatte das Glück sein Land ja auch an jenem Tag verlassen, an dem ein so abartiger Mensch wie Sekka geboren worden war.

Die Ahnen der Königsfamilie Li, die aus Ka ein reiches Land gemacht hatten, hatten schon seit langer Vorzeit den Gott des Mondes angebetet, und so galt die Tradition, dass der erstgeborene Prinz als „Mondkaiser“ dem Reich dienen musste. Der Mondkaiser verkörperte den heiligen Geist des Mondgottes und arbeitete als Priester in seinem Tempel.

Im Klartext gesprochen hätte Sekka dem Mondpalast beitreten und im nächsten Jahr mit achtzehn zum Mondkaiser ernannt werden müssen. Der ursprüngliche Plan war gewesen, dass er ein Jahr lang im Mondpalast bleiben musste, um seine Gebräuche und Geschichte zu erlernen. Doch nach Shungetsus Tod hatte man alle Pläne unvermeidlich ändern müssen.

Hätte man den Tod der Kronprinzessin öffentlich bekannt gegeben, wäre es im einfachen Volk zu Unruhen gekommen. Und selbst wenn seine Tante Kougetsu den Platz seiner Mutter eingenommen hätte, so hatte auch sie keine Töchter. Unter den Cousinen in der Kaiserinnenfamilie hatte es mal eine Tochter gegeben, doch sie war schon in einem sehr jungen Alter gestorben.

Da es in der königlichen Familie keine geeignete Kandidatin für den Kaiserthron mehr gab, und sich zudem noch die amtierende Kaiserin in einem schlimmen Gesundheitszustand befand, war es unmöglich gewesen, den Tod seiner Schwester zu verkünden. Und so hatte Sekka zeitweise Shungetsus Platz eingenommen.

In den letzten paar Jahren hatte Sekka seine Schwester in ihrer Größe etwa um eine Faust übertroffen, doch in Ka gab es sowieso sehr viele große und schlanke Menschen – daher fiel das nicht auf. Was aber noch wichtiger war: Selbst mit siebzehn Jahren hatte Sekka noch eine schlanke, zierliche Figur, sodass er durchaus als junge Frau durchging.

Wie man sich vielleicht denken konnte, war seine Stimme tiefer als die von Shungetsu, doch wenn er hoch sprach, klang das nicht unnatürlich. Und am allerwichtigsten: Ihre Gesichter glichen sich wie ein Ei dem anderen. Wenn Sekka also sein Haar hochsteckte, Make-up auftrug und Shungetsus Kleider anlegte, sahen sie sich so ähnlich, dass selbst die Dienerinnen, die den Bruder und seine Schwester sehr gut kannten, sie miteinander verwechselten.

Als kaiserliche Prinzessin des Landes Ka musste sich Shungetsu auch mit fremden Würdenträgern treffen und an den Sitzungen des Hofstaates teilnehmen. Auch wenn es ein paar Leuten verdächtig fanden, dass die Prinzessin im Vergleich zu vorher jetzt nur noch selten den Mund aufmachte, so hatte bis jetzt noch niemand bemerkt, dass „Shungetsu“ in Wahrheit ihr jüngerer, verkleideter Bruder Sekka war. Es war auch ein Glück gewesen, dass Sekka als Prinz bis dahin nur selten vor anderen Leuten erschienen war.

Dennoch war ein Stellvertreter immer nur ein Stellvertreter.

Er konnte nicht den Platz seiner Mutter einnehmen und den Thron besteigen. Seit seiner Geburt war Sekka der erste kaiserliche Prinz gewesen, doch tatsächlich war er nicht einmal qualifiziert genug, um der Mondkaiser zu werden.

Man konnte wirklich nicht behaupten, dass Sekka den normalen Körper eines Mannes hatte. Sekka barg ein Geheimnis, dass er niemanden enthüllen durfte.

Innerlich das eigene Schicksal beklagend, berührte Sekka die Halskette auf seiner Brust. Die Kette bestand aus Perlen und Mondstein – die Symbole des Mondgottes – und er hatte sie vom Oberpriester des Mondpalastes Lin Shohun bekommen, als er aus dem Kaiserpalast geflohen war.

„Bitte gib auf dich acht. Ich bete für Sekka-samas Wohlergehen.“ Bei ihrem Abschied hatte Shohun ihn mit einem Blick bedacht, in dem mehr Kummer lag, als man in Worte fassen konnte. Er fühlte noch immer die Wärme seiner Hände, als sie sich um Sekkas legten.

Angeblich hatte die Kaiserin von Ka keinen Ehemann. Dies war ein Schutzmechanismus, um jeder Intervention in die Politik von Seiten der Familie des Gattens vorzubeugen. Shohun hatte sein Amt als Priester bis zum Ende standhaft verteidigt, aber sowohl Shungetsu als auch Sekka hatten ihn schon lange als ihren Vater gesehen.

Seit Yougetsu nach Shungetsus Tod an ihr Bett gefesselt war, hatte Shohun so gut wie jede Minute an der Seite der Kaiserin verbracht – außer wenn er seine Pflichten als Priester ausüben musste. Wahrscheinlich waren er und Kougetsu jetzt auch im Schlafgemach der Kaiserin. Sie wollten ihr bis zum allerletzten Moment Beistand leisten.

Auch wenn Shohun nie etwas gesagt hatte, so wusste er wahrscheinlich auch um das Geheimnis von Sekkas Körper. Manchmal hatte er ihn angesehen, als wollte er etwas sagen. Nun bereute Sekka, dass er ihn nicht ein einziges Mal Vater genannt hatte.

Während er sich noch wünschte, er könnte diese Gefühle zusammen mit den Erinnerungen an den Königspalast in sich festhalten – egal wie viel Schmerz es ihm auch brachte – trugen ihn seine Füße von alleine vorwärts.

Plötzlich hielten die Soldaten, die den Trupp anführten, an und bedeuteten allen anderen, dasselbe zu tun.

War etwas passiert? Selbst wenn er die Ohren spitzte, was das Einzige, was Sekka hören konnte, das Geräusch von kleinen, tschilpenden Singvögeln. Doch die Soldaten am hinteren Ende drückten nun ihre Ohren auf den Boden und ihre Minen waren düster.

„Wie es scheint, kommen einige Reiter in diese Richtung. Ich vermute mal, es sind mehr als fünf… Wahrscheinlich ein Verfolgertrupp.“

Anspannung machte sich in der Truppe breit. Der Feind hatte schneller reagiert, als sie erwartet hatten. Zum Teufel, wo und wann war ihnen dieser Fehler unterlaufen?

Die Sonne stand fast im Zenit. Selbst wenn sie die Gegend hätten überblicken können, so befanden sie sich in einem endlosen Wald ohne irgendwelche Gebäude oder Höhlen, wo sie sich hätten verstecken können.

Was noch dazu kam: Ihre Verfolger ritten auf Pferden, wohingegen sie zu Fuß unterwegs waren. Außerdem trugen sie alle Taschen und Gepäck aus dem kaiserlichen Palast mit sich. Ganz egal wie sehr sie sich auch beeilen mochten, die anderen würden sie einholen – das war offensichtlich.

Shohen und Baigyoku tauschten besorgte Blicke. Die Dienerinnen am Königshofe von Ka waren stets ruhig, abgeklärt und beherrscht und sie umgab immer eine distanzierte Aura, die ihrem sozialen Stand angemessen war. Doch nun hatten sich ihre Gesichter verkrampft. Wenn die feindlichen Soldaten sie fingen, so konnte keiner sagen, wie man sie behandeln würde.

Was soll ich tun?, dachte Sekka und er biss sich auf die Lippen. Wenn sie dem Feind in die Hände fielen, würde man sie wahrscheinlich mit nach Yoh nehmen. Und wenn sie herausfanden, dass er ein Mann war…

Er musste sich wohl mit dem Gedanken abfinden, dass ihn ein beschämender Tod erwarten würde. Irgendetwas würde ihm wohl noch einfallen, wie er seine zwei Dienerinnen retten konnte. Aber für sich selbst fiel ihm kein Plan aus diesem Dilemma ein.

„Wir können hier nicht weiter rumstehen. Beeilung!“

Die Soldaten an ihrer Seite trieben sie zur Eile, also konnten sie nur noch rennen. Der Rhythmus seines schnell schlagenden Herzens schien ihm fast den Brustkorb zu sprengen. Sie mussten durchhalten, selbst wenn sich ihre Füße verhedderten und sie beinah stürzten, als sie immer tiefer ins Herz des Waldes rannten.

Doch nicht sehr viel später konnte nun auch Sekka spüren, wie der Boden vibrierte und er hörte Geräusche, die nach dem Trampeln von Pferdehufen klangen. Er fühlte einen prickelnden Druck in seinem Rücken, der immer stärker wurde. Er musste sich nicht einmal umdrehen, um zu verstehen, dass ihre Verfolger nah waren. Nun waren sie Freiwild, das gejagt und zu Tode gehetzt wurde.

„Wir werden dort hinten stehen bleiben und diese Kerle aufhalten. Bitte rennt weiter, solange Ihr noch die Gelegenheit dazu habt.“ Zwei Soldaten, die den Ernst der Lage erkannten, meldeten sich freiwillig für diese Pflicht. Zwischen den Bäumen wurden die Silhouetten ihrer Verfolger, die die Landesflaggen von Yoh mit sich trugen, sichtbar. Wahrscheinlich waren es um die zehn Leute.

„Aber…“

„Lasst uns weiter rennen, Shungetsu-sama.“

Die zwei Soldaten stellten sich bereits auf, um den näher rückenden Feind zu empfangen. Sekka zögerte noch immer, und so packte ihn ein anderer Soldat am Arm, wobei er sich gleich für diese grobe Berührung entschuldigte. Sekka wurde halb in den Wald hinein gezogen, während ihn die drei noch übrigen Soldaten weiter schützten.

Ihre Verfolger bahnten sich schnell und wendig einen Weg durch die Bäume hindurch und innerhalb eines kurzen Augenblicks hatten sie die Entfernung zu ihnen überwunden. Der Verfolgertrupp wurde von einem Mann angeführt, der von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet war.

Die zwei Soldaten, die zurückgeblieben waren, spannten im Schatten der Bäume ihre Bogen. Der Schwarzgekleidete nutzte sein Schwert, um ihnen die Pfeile aus der Hand zu schlagen und machte seinerseits einen Gegenangriff, als er immer noch hoch zu Pferde an ihnen vorüber preschte.

Ein lautloser Schrei erfüllte die Luft.

Nach einem Schlenker des langen Schwertes brach der eine Soldat in sich zusammen, wobei er noch immer seinen Bogen hielt. Dem anderen rammte ein gegnerischer Soldat ein Schwert durch den Hals und er ging viel zu schnell zu Boden.

Es zeugte von erstaunlichem Talent, dass der Mann, während er in vollem Galopp durch einen dichten Wald ritt, so gut ins Schwarze getroffen hatte. Unter all ihren Verfolgern verliehen ihm diese Fähigkeiten gepaart mit seinen schwarzen Kleidern und dem wehenden Haar ein Auftreten wie von einem bösen, tiefschwarzen Sturm.

„Stehen bleiben!“, rief eine scharfe Stimme von Seiten der gegnerischen Soldaten. Ehe sie es sich versahen, waren die Soldaten des Feindes auch schon einmal um sie herumgelaufen und nun waren Sekka und der Rest der Flüchtlinge umstellt. Beide Fluchtmöglichkeiten – die nach vorne und ihr Weg zurück – waren abgeschnitten worden.

War dies nun das Ende?

Seine Soldaten spannten die Bögen, um weiter Widerstand zu leisten und sie drängten Sekka zurück. Sie hatten ihn die ganze Zeit über beschützt, aber dass sie sich auch noch für ihn opfern wollten, war zu viel.

Indem er sich schützend vor die zwei blassen und zitternden Dienerinnen in seinem Rücken schob, stellte sich Sekka der Gruppe feindlicher Soldaten entgegen. Der Mann in Schwarz starrte ihn ungerührt vom Sattel seines Pferdes aus an. Alle Kleider, die er am Leibe trug, hatten dieselbe Farbe und selbst das Fell seines Rosses war dunkel wie Pech.

Er mochte wohl um die dreißig sein – vielleicht ein bisschen jünger. Seine Züge waren beherrscht, in ihnen lag eine versteckte Eleganz. Die ebenmäßigen Brauen und seine gerade Nase zeugten von einer edlen Abstammung, wohingegen ihn seine stechenden Augen und die fest zusammengepressten Lippen einen wilden Zug verliehen.

Es war nicht nur seine stattliche Figur, durch die er sich von den anderen Männern abhob. Dieser Mann verkörperte beinah schon den Inbegriff von Hoheit, sodass man unter nur einem flüchtigen Blick von ihm sofort auf die Knie fallen wollte. Er verströmte eine einschüchternde Aura, die alle überwältigte und jeden dazu brachte, einen guten Abstand zu ihm zu wahren.

Wer zur Hölle war dieser Mann? Sekka glaubte nicht, dass er nur ein einfacher Offizier sein konnte.

Während er noch unerschrocken zurück starrte, wandte der Mann plötzlich seinen Blick von Sekka ab. Nun stieg ein anderer der feindlichen Soldaten vom Pferd und kam auf sie zu. „Seid folgsam. Leistet keinen unnützen Widerstand.“

Die Gegner umstellten Sekka und sein Gefolge, sie spannten ihre Bögen und nahmen sie ins Visier. Wenn sie auch nur eine verdächtige Bewegung machten, würden sie augenblicklich sterben.

Sekkas Geleitschutz wurden die Waffen abgenommen und ihnen die Hände auf dem Rücken gefesselt. Zumindest schien es, als würden sie sie hier nicht töten. Er wusste nicht, wie es nun weiterging, doch zu aller erst sollte er darüber nachdenken, wie er jetzt am besten überleben konnte.

„Bist du die Frau, die aus dem Königspalast geflohen ist?“, fragte eine Stimme von rechts.

Wenn der Schwarzgekleidete der befehlshabende Offizier war, so musste dieser Mann sein Berater sein. Er hatte wohl um die vierzig miteinander verbundene Narben auf seiner Wange, seine Züge waren rau und zerfurcht und tatsächlich erweckte er den Eindruck eines Kriegsveterans.

„Zeig dein Gesicht.“

Als sie sahen, wie der Mann mit den Narben versuchte, Sekka den Schleier abzureißen, verloren die Gesichter der gefesselten Soldaten jede Farbe. „Hört auf! Wagt es nicht, die Prinzessin anzurühren!“

Seine Soldaten wurden brutal geschlagen und sie brachen am Boden zusammen, doch schon erhoben in Sekkas Rücken Shohen und Baigyoku ihre Stimmen.

„Bitte, hört auf, Ihr könnte die Prinzessin so nicht anrühren!“

„Sich der Prinzessin gegenüber so anmaßend zu benehmen, ist nicht gestattet!“

Von dem deutlichen Unterschied im Auftreten zwischen Sekka und den anderen zwei Mädchen, konnte man schon vermuten, dass Sekka einen hohen Posten inne hatte. Der vernarbte Mann sah überrascht hinauf zu dem Mann auf dem Pferd. Der Schwarzgekleidete neigte nur leicht sein Kinn und bedeutete ihm damit, dass er den weißen Schleier abnehmen sollte.

„Wie ungehobelt… gh… lasst mich los!“ Die zwei Dienerinnen wurden von Sekka weg gezogen und im Bruchteil einer Sekunde wurde ihm der Schleier mit roher Gewalt vom Gesicht gerissen. Die ihn umgebenden Soldaten von Yoh schluckten augenblicklich verständnisvoll.

Sie sahen ein Gesicht mit einer Haut so weiß wie Schnee und Lippen, die eine Farbe hatten wie die Blüten eines Kirschbaums. Hals und Schultern gingen in einem anmutigen Bogen ineinander über. Die Nase war schlank und gerade. Sekka und Shungetsu hatten beide das liebreizende Gesicht von Yougetsu geerbt – von der Frau, die als die schönste Maid der Mitte galt.

Doch verglichen mit seiner älteren Schwester waren Sekkas Züge fast schon ein exaktes Ebenbild vom Gesicht ihrer Mutter.

Einen Moment lang herrschte Totenstille.

Der Mann in Schwarz war der Einzige, der ihn weiter ansah, ohne dabei eine Miene zu verziehen. Mit dem kleinen bisschen an Würde, das ihm noch geblieben war, hielt Sekka den Kopf stolz und hocherhoben.

Das Haar auf seinen Wangen war weich und kurz. Es war nicht sehr wahrscheinlich, dass sie erkennen würden, dass er ein Mann war. Doch wo er sich nun mit diesem prüfenden Blick konfrontiert sah, der fähig zu sein schien, einfach alles zu enthüllen, konnte er fühlen, wie ihm der kalte Schweiß den Rücken hinunterrann. Wenn sie nun verlangten, dass er gleich hier die Kleider ablegen sollte, und sie dann erkennen würden, dass er keine Frau war, dann wäre dies das Ende seiner Geschichte.

„Bist du die so gefeierte, wunderschöne Kronprinzessin des Landes Ka? Prinzessin Shungetsu?“, fragte ihn der Mann in Schwarz. Seine schöne Stimme klang leise und voll. Sie hatte einen ganz speziellen, eigenen Charme.

Sekka hielt den Mund. Er hatte nicht die Absicht, seinen Namen zu verraten. Wenn sie der Meinung waren, dass er Shungetsu sei, dann sollten sie das ruhig glauben. Selber Schuld, wenn sie falsch lagen.

Als er auf Sekka hinab blickte, dessen Gesicht blass aber voller Entschlossenheit war, und der ihm die Sache offenbar schwer machen wollte, dehnten sich die grausamen Lippen des Mannes zu einem Lächeln.

„Sieht so aus, als könnten wir uns die Zeit und Mühe sparen, dich zu suchen.“

Also war es von vornherein ihr Ziel gewesen, die Prinzessin zu fangen?

Wahrscheinlich hatten sie vor, ihn als Druckmittel bei irgendwelchen Verhandlungen zu benutzen. Nichts desto trotz blieb ihm erst nichts weiter übrig, als sich jetzt als Shungetsu auszugeben – wenn er nun alles auf eine Karte setzen wollte, um noch ein bisschen länger am Leben zu bleiben.

„Wie lauten Eure Befehle, Eure Majestät?“, fragte der Soldat mit der Narbe den Schwarzgekleideten. Er gab Sekka den Schleier zurück.

Eure Majestät…?

Das war doch nicht möglich! War dieser Mann der Kaiser von Yoh?

Als er den überraschten Ausdruck auf Sekka’s Gesicht bemerkte, bogen sich die zynischen Lippen des Reiters auf dem schwarzen Ross noch ein wenig mehr.

„Ja, ich bin Ryuu Kishoh, der Kaiser von Yoh.“

Sekka starrte ihn an. Er hatte wirklich nicht erwartet, hier dem leibhaftigen Kaiser zu begegnen, daher fehlten ihm wirklich die Worte.

Der Mann, dem er hier herausfordernd die Stirn geboten hatte, war jemand, der seine eigenen Brüder ohne Gnade ausgelöscht und auf seinem Weg zum Thron ganze Flüsse aus Blut vergossen hatte. Und es war der Missetäter, der plante, das Land Ka zu erobern.

„Wenn ich Euch bitten dürfte, uns in das Lager zu begleiten, Prinzessin Shungetsu“, verkündete der Kaiser mit einer überheblichen Stimme, die es scheinbar gewohnt war, andere herumzukommandieren. Und mit diesen Worten wandte er sein Pferd – zurück in die Richtung, aus der er gekommen war.


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-sama: Diese Silbe wird immer direkt an den Namen angehängt. Sie wird als formelle und höfliche Anrede genutzt.






6 Kommentare:

  1. Uhhh spannend. I need more. *wartend Tee trinken*

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    1. Haha, freut mich, dass das gut ankommt. Man darf gespannt sein!

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  2. also der anfang ist ja schon sehr spannend. geflohen und schon in die hände des kaiser gefallen. er hat ein schweres los muss als prinzessin durch gehen. was wird nun geschehen oder wird sein geheimnis herraus kommen. oh mann das kann ich fast nicht mehr erwarten das es weiter geht.

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    1. Ja, ich liebe solche "Versteckspiele" auch. Und man wird gleich direkt in die spannende Handlung rein geworfen - finde ich persönlich als eine sehr packenden Start.

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  3. Ui, die Geschichte klingt ja mal sehr spannend.
    Mich erinnert das mit dem Prinzen und der Prinzessin Rollenübernnahme ein bisschen an den Manga Mimic Royal Princess.
    Mal sehen, was uns in der zweiten Hälfte des Kapitels erwartet.
    Obwohl ich mich frage, ob dieser Kaiser in seinem Harem dem originalen Luo Binghe Konkurrenz machen will.

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    1. Haha, das mit dem originalen Lou Binghe ist gut, zumal (winziger Spoiler) der Begriff des "Harems mit 3000 Personen" sich auch noch mal später im Text findet. Mehr will ich aber nicht verraten. Man darf gespannt bleiben.
      Ich habe mich beim Übersetzen oft gefragt, ob Sekka und Shungetsu vielleicht Zwillinge sind - wird im Text tatsächlich nie erwähnt. Aber die Anspielung, dass sie sich wie ein Ei dem anderen gleichen... klingt fast so.

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